Kae Tempest: Sprühen vor Euphorie

Nr. 47 –

Kae Tempest hat in Bern ein eindringliches Konzert gespielt. Das neue Album «The Line Is a Curve» erschien im Frühjahr, es ist ein dynamischer und poetisch versierter Psychotunnel.

Kae Tempest auf der Bühne
Muss Schreib- und Sprechtalent nicht mehr beweisen und tat es in der Berner Dampfzentrale trotzdem eindrücklich: Kae Tempest. Foto: Yoshiko Kusano

Was für ein Einstieg. Kae Tempest bedankt sich mit ungespielter Herzlichkeit bei allen, die gekommen sind, egal aus welchen Gründen und mit wem, stellt die musikalische Begleitung vor, die brillante Keyboarderin Hinako Omori, dann verabschiedet sich Tempest in den Tunnel der Musik und die Kämpfe und Glücksgefühle, durch die er führt: «Wir sehen uns auf der anderen Seite.»

Das Konzert in der Berner Dampfzentrale von letzter Woche war seit Monaten ausverkauft. Es gab viele Gründe, aufgeregt zu sein: der Ruf von Tempests Bühnenpräsenz, das erste Konzert im Land seit dem Coming-out als nonbinär im Sommer 2020, das neue Album «The Line Is a Curve», das diesen Frühling erschien und stärker ist als das davor, auch weil es wieder mehr nach Rap klingt. Im ersten Teil des Konzerts spielt Tempest dieses Album von A bis Z, lässt sich alle seine Ups und Downs nahegehen. «Priority Boredom», der erste Track, baut düster und dramatisch auf, der Beat klinkt sich ein, und Tempest beschleunigt. Es geht um das Leben als sinnlose Hast bis in den Tod: «Build up resilience!»

Die Oberhand behalten

Tempests schier endlose Bereitschaft, sich in die eigenen Worte hineinziehen zu lassen, allem Gewicht zu geben, worum es darin geht, erzeugt einen Sog. «Smoking», ein Song über vererbte Traumata, der auf dem Album als schüttere, ins Handy gesprochene Sprachnachricht mit Festivallärm im Hintergrund festgehalten ist, wird hier zur Inszenierung eines Zusammenbruchs, der immer mehr um ein Wort zu Kreisen beginnt: «devotion», Hingabe.

Das fühlt sich zuweilen schwer an, keine Frage, Tempest lässt die Zügel nie fahren, Humor oder Ironie sucht man in dieser Musik oder in der Performance vergeblich. Es ist faszinierend, wie weit die Ernsthaftigkeit trägt – in «Grace» etwa, dem letzten Song auf dem Album, preist Tempest zu nicht mehr als einer filigranen Gitarre das «Lodern und die Fülle dieses schönen Lebens», bis irgendwann alles Liebe ist. Nicht mehr mitgehen mag man eigentlich nur dort, wo der Text in flache Kulturkritik kippt. «Hold Your Own» (etwa: Behalte die Oberhand) klingt einmal fast nach Kalenderspruch: Wenn du zufrieden bist mit dir selber, brauchst du auch die ganzen Outfits und aufregenden Produkte nicht.

Bezeichnend, dass der Song vom älteren Album «The Book of Traps and Lessons» (2019) ist. Es soll die Idee von Produzent Rick Rubin gewesen sein, Tempests Stimme stärker vom Beat zu lösen; viele Tracks auf dem Album waren eher Soundscapes mit gesprochener Dichtung als Rap. Klar, im Grunde reicht die Präsenz dieser Stimme, um einen ganzen Saal zu füllen – eindrücklich war das 2016 im Zürcher «Mascotte» zu erleben, als die Instrumente der Band in Reykjavik stecken geblieben waren und Tempest das ganze Album «Let Them Eat Chaos» ohne Begleitung und Pause vortrug. Trotzdem: Vielleicht hatte die stärkere Tendenz zum Statement auf «The Book» auch damit zu tun, dass sich die Musik eher wie ein Podest für eine Rede gab.

Behauptet wird auf dem neuen Album jedenfalls kaum, oder dann sehr frei: «Nothing to Prove» heisst ein Song, ausgerechnet dieser. Klar, dieses Schreib- und Sprechtalent muss sich nicht mehr beweisen, aber tut es hier eben gerade eindrücklich: mit dem sechssilbigen, wiegenden Vers in der Hook und den Strophen, die phonetisch korrespondieren. Das Gefühl für Rhythmus und Klang ist schlicht phänomenal, die Frage, wie Tempest die epische Last trägt, von daher schnell zu beantworten: Es ist eine Frage des Fundaments.

Trashiges Wesen

Im Frühjahr sprach Tempest mit dem «Guardian» erstmals öffentlich über das Coming-out, erzählte von einer psychisch belasteten Jugend. Depressionen, Panikattacken, ADHS, die Flucht vor zu Hause und vor der Schule, der häufige Drogenkonsum, all das war immer auch verbunden mit Geschlechtsdysphorie. So nennt man die psychische Belastung, die der Dissonanz zwischen gelebtem und gefühltem Geschlecht entspringt. In diesem psychischen Sturm seien Rap und Dichtung stets eine Lebensader gewesen, sagt Tempest. Und die Performance ein Medium, in dem das Geschlecht für einen Moment nicht wichtig sein musste.

Die Transition kommt vor auf «The Line Is a Curve», aber das Album dreht sich nicht darum. Die Pendelbewegung zwischen Durchhalten und Aufstehen im Angesicht widriger Umstände bleibt poetisch schillernd, auch weniger stark im prekären Grossstadtschlund von London verankert als früher. Die ganz unterschiedlichen Zustände zeigen sich auch in der musikalischen Dynamik. Obenaus schlägt «Move», der kürzeste Track von allen, eine Kampfansage zu hypnotischem Electro-Grime. Ein ebenso friedfertiger, aber weniger sentimentaler Moment als «Grace» ist «Salt Coast», eine Liebeserklärung, ja tatsächlich, an Grossbritannien. Als landschaftlich-atmosphärisches Gebilde, aber auch als heillos melancholisches und ein bisschen trashiges Wesen, das die Hüfte schwingt, während es die Gasse entlang stolziert. In Bern singt Tempest die anmutige Melodie im Refrain beinahe mit, es reicht, um vor Euphorie zu sprühen.

Cover der CD «The Line Is a Curve» von Kae Tempest

Kae Tempest: «The Line Is a Curve». Virgin/Universal. 2022.