Mentale Gesundheit in der Ukraine: Die Ängste vergessen
Nach bald drei Jahren Abnutzungskrieg greifen immer mehr Ukrainer:innen zu Antidepressiva. Nur so könnten sie den Alltag weiterhin bewältigen, sagen zwei Betroffene.

Sie bekomme noch immer Gänsehaut, wenn sie an das Gefühl der Zusammengehörigkeit zurückdenke, an die gegenseitige Hilfe und das «totale Vertrauen» ineinander, sagt Tania Kamenewa über die ersten Wochen nach Beginn der russischen Vollinvasion. «Ich erinnere mich, wie ich an meinem Laptop sass und mir ständig Essen gebracht wurde: Kekse, Tee, Sandwichs, Suppe, Toast.» Am 24. Februar 2022, als Russland seinen Grossangriff auf die Ukraine begann, war Kamenewa von Charkiw nach Lwiw ganz im Westen der Ukraine geflohen. 38 Stunden war sie unterwegs gewesen. In Lwiw begann sie, Spenden zu sammeln, Drohnen und Ausrüstung für die Armee und Unterkünfte für Geflüchtete zu organisieren. Die Zeit schien stillzustehen damals, als die Tage ineinander übergingen, begleitet von ständiger Angst vor dem weiteren Vormarsch russischer Truppen.
Ein starker Kontrast sei das, meint die 27-Jährige, zwischen der anfänglichen Hoffnung auf einen ukrainischen Sieg, dem Tatendrang, der Resilienz – und der sich nach bald drei Jahren Krieg eingestellten Erschöpfung. Alle in ihrem Umfeld wollten damals helfen, einen Beitrag leisten. «Wir schliefen, weinten und arbeiteten. Und dazwischen haben wir die Nachrichten gesehen», erzählt Kamenewa. Die Nachfrage nach Unterstützung reisst noch immer nicht ab. Eine Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten, hatte sie nicht.
Im permanenten Chaos
Beobachter:innen sprechen seit Monaten von einer Krise der mentalen Gesundheit als einer von vielen Konsequenzen des russischen Zermürbungskriegs. Auch Kamenewa erreicht immer wieder Tiefpunkte. «Manchmal habe ich keine Energie, um auch nur irgendetwas zu tun. Dann liege ich den ganzen Tag bloss da und ruhe mich aus», sagt sie. Mittlerweile leitet sie eine NGO in Kyjiw, die ebenfalls Spenden für die Armee sammelt. «Wir tun alles, um denen zu helfen, die uns verteidigen», sagt sie. Hinzu kommt, dass die ständigen Luftangriffe auf das gesamte Land auch jene zunehmend auslaugen, die abseits der Front leben. Die russischen Angriffe machen Menschen obdachlos, Tag für Tag verlieren Familien Söhne, Ehemänner und Väter.
Während Kamenewa erzählt, springt ihr schwarzer Pudel zu ihr auf die braune Ledercouch. Zwei Sphynxkatzen dösen auf dem Heizkörper dahinter. Draussen auf der Strasse rattern die Stromgeneratoren – ein Geräusch, das in Kyjiw wieder oft zu hören ist, seitdem Russland mit seinen Angriffen erneut riesige Schäden an der Energieinfrastruktur angerichtet hat. Ihre Haustiere würden sie dazu bringen, an etwas anderes zu denken. «Sie helfen mir, die Ängste hin und wieder zu vergessen», sagt sie. Doch ohne Antidepressiva und Therapie hätte sie die Kraft zum Weitermachen nicht gehabt. Das Leben im Krieg sei ein «permanentes Chaos», in dem man auf immer neue Herausforderungen reagieren müsse.
So wie Kamenewa geht es mittlerweile vielen in der Ukraine. Laut der renommierten medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» leidet die Hälfte der Bevölkerung an einer posttraumatischen Belastungsstörung. In einer Erhebung des Umfrageinstituts Gradus gaben im letzten Frühjahr 77 Prozent der Befragten an, unter Stress oder starker Nervosität zu leiden, 40 Prozent erklärten, Bedarf an psychologischer Hilfe zu haben.
Bei Kamenewa war bereits vor der russischen Invasion eine klinische Depression festgestellt worden. Damals habe sie zeitweise Antidepressiva nehmen müssen – und das oft aus Scham und der Angst vor Unverständnis vor ihren Mitmenschen versteckt. Nach Beginn des Krieges riet ihr ihre Ärztin, die Medikamente weiterhin einzunehmen. Sie helfen dabei, ihre depressive Stimmung zumindest etwas zu lindern. «Mittlerweile kann man in der Ukraine zumindest offen darüber sprechen», sagt Kamenewa. Immer mehr ihrer Bekannten litten unter Burn-out und seien in Therapie. Mindestens dreissig Personen aus ihrem näheren Umfeld würden ebenfalls Antidepressiva nehmen: «Wir fragen uns nicht mehr, ob wir Medikamente nehmen, sondern welche.»
Der Krieg hat die Ukrainer:innen traumatisiert: Viele kämpfen mit Angst, ständiger Unsicherheit und einem anhaltenden Gefühl der Überforderung. Entsprechend gross ist die Nachfrage nach schnellen Lösungen. Laut Liki24.com, einem ukrainischen Start-up im Gesundheitsbereich, das unter anderem Preise für Arzneiprodukte vergleicht, gehören Antidepressiva mittlerweile zu den Top Ten der beliebtesten Produkte, zusammen mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln.
Keine «einfache» Lösung
Gemäss dem Pharmakonzern Acino International mit Sitz in Zürich ist der Verbrauch von Antidepressiva in der Ukraine im Jahr 2023 um 75 Prozent gegenüber dem Vorkriegsjahr 2021 gestiegen. Das Gesamtvolumen des Antidepressivamarkts werde in den kommenden Monaten weiter wachsen, sagt das Unternehmen voraus. Angesichts der nicht abreissenden Krisen ist der Verkauf von Medikamenten für die Pharmaindustrie ein lukratives Geschäft. Das ukrainische Gesundheitsministerium liess mehrere Anfragen der WOZ diesbezüglich unbeantwortet.
Expert:innen wie der Psychiater und Suchttherapeut Taras Zlydennyi warnen allerdings vor den Risiken. «Antidepressiva sind keine ‹einfache› Lösung. Sie sollten nur verschrieben werden, wenn tatsächlich eine schwere Depression vorliegt. Aber die Diagnose einer solchen ist kompliziert», so der 45-Jährige, der eine medizinische Einrichtung in der Stadt Sumy leitet und Teil einer Expert:innengruppe des nationalen Gesundheitsdiensts der Ukraine ist.
Zlydennyi beobachtet stattdessen eine wachsende Tendenz zur Selbstmedikation: «Viele Menschen verzichten aus Zeitmangel auf den Arztbesuch.» Eine Seite im Internet zu öffnen, eine Selbstdiagnose zu stellen und Medikamente zu besorgen, sei heute einfacher als je zuvor. Zwar seien Antidepressiva in der Ukraine verschreibungspflichtig, doch man finde immer einen Weg, sie online oder in der Apotheke auch ohne Rezept zu kaufen.
«Antidepressiva sind keine Mittel, die den Schmerz einfach wegnehmen können», warnt Zlydennyi. Wirksam seien diese nur in Verbindung mit einer Therapie. Zudem könnten sie gravierende Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, Appetitveränderungen oder allergische Reaktionen auslösen. In der Vergangenheit wiesen Studien immer wieder auf die negativen Seiten der Einnahme von Antidepressiva hin, dokumentierten auch einen Zusammenhang mit einem erhöhten Suizidrisiko und Entzugserscheinungen nach dem Absetzen.
Für Betroffene wie Bohdan Kinaschtschuk überwiegen die Gefahren des zermürbenden Krieges die Bedenken hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen der Medikamente. Der 33-Jährige stammt aus Awdijiwka im Donbas und arbeitet seit vielen Jahren als Journalist. «Vom Beginn der Invasion bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich meinen Therapeuten traf, habe ich jeden Abend getrunken, um mich von dem abzulenken, was ich tagsüber sah», erzählt er. Die Bilder der zerstörten Dörfer und der toten Zivilist:innen seien ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
Mehrfach dokumentierte Kinaschtschuk Exhumierungen, besonders stark in Erinnerung geblieben sei ihm eine im Oblast Tschernihiw nördlich von Kyjiw. «An einem Tag wurden die Leichen von fünf oder sechs Personen ausgegraben, die von den russischen Truppen bei ihrem Rückzug hingerichtet worden waren. Die ukrainischen Soldaten bargen eine Leiche nach der anderen. Und die Hinterbliebenen weinten und schrien ununterbrochen», erinnert er sich. «Ich habe in diesem Moment alle meine Gefühle unterdrückt.»
Im Laufe des ersten Kriegsjahrs habe er die Anspannung, die Trauer und den Druck immer wieder von sich weggeschoben. Seine Eltern befanden sich im Frühjahr 2022 im damals stark umkämpften Mariupol, waren eingekesselt von den russischen Angreifern, die die Stadt später einnahmen. «Ich konnte nur auf Neuigkeiten warten. Also trank ich, bis ich nichts mehr spürte.» Kinaschtschuks Eltern haben die Belagerung überlebt und befinden sich inzwischen im europäischen Ausland in Sicherheit. Doch die vielen sich überlagernden Erfahrungen, die er nicht fühlen wollte, rächten sich.
«Ich habe ständig überlegt, was noch passieren könnte, dachte über die schlimmsten Szenarien nach und wie ich damit umgehen würde. Ich war völlig abwesend von der Realität», erzählt der Reporter. Eines Tages – Kinaschtschuk war gerade von einer Recherche an der Front nach Kyjiw zurückgekehrt, wo er mittlerweile lebt – sah er auf der Strasse eine Passantin in einem roten Kleid und fing an zu weinen. «Das Kleid hat mich an eine Szene erinnert, die ich an der Front gesehen habe: an eine Frau in einem roten Kleid in einem zerstörten Gebäude, überall lagen russische Tote herum.»
Nie wieder zurück
Ein Psychiater stellte anschliessend eine Angst- und eine posttraumatische Belastungsstörung fest und verschrieb Antidepressiva. «Sie haben mir geholfen, wieder lachen zu können», sagt Kinaschtschuk. «Und ich konnte wieder rational über alles nachdenken, mit der Situation umgehen und überlegt handeln.»
Sowohl Bohdan Kinaschtschuk als auch Tania Kamenewa sagen, dass sie die Medikamente wohl noch für eine lange Zeit einnehmen werden. Und dass sie vermutlich nie wieder in ihre Heimatorte zurückkehren können. «Awdijiwka war einmal eine schöne, grüne und gemütliche Stadt», sagt Kinaschtschuk. Mittlerweile wurde der Ort in der Nähe von Donezk grösstenteils zerstört und ist zu Beginn des letzten Jahres unter russische Kontrolle gefallen. Manchmal träume er davon, wieder dort zu sein. «Im Traum laufe ich jeweils zu meiner Strasse und versuche, in meine zerstörte Wohnung zu klettern, um ein paar Fotoalben zu finden oder wenigstens irgendetwas, das Teil unserer Familienerinnerungen ist.»
Kamenewas Heimatstadt Charkiw erlebt seit Monaten ebenfalls heftige Angriffe. «Immer wenn ich dorthin zurückfahre, fühle ich mich traurig», sagt sie. Die Familie stellt ihre Wohnung mittlerweile ukrainischen Soldaten zur Verfügung. «Ich habe das Gefühl, dass ein grosser Teil meines Lebens verloren gegangen ist.»