Antidepressiva und Amok: Wenn der Schalter kippt ...

Nr. 22 –

Brutale Videospiele, Waffenfetischismus und soziale Randständigkeit werden routinemässig im Zusammenhang mit Amokläufen debattiert. Ein Faktor ist bislang übersehen worden: gewisse Psychopharmaka.

Stephen Leith war als Lehrer stets untadelig gewesen. Doch dann änderte sich sein Verhalten innert weniger Wochen. Es folgte eine Rüge des Schulleiters, schliesslich ein Meeting, bei dem sein bizarres Verhalten Thema war. «Ich rastete aus und tötete den Schulleiter», sagt Leith. «Wenige Minuten später ging ich in meine Schulklasse, als ob nichts passiert wäre.» Als er verhaftet wurde und sein Anwalt im Gefängnis erschien, fragte er diesen, ob jemand verwundet worden sei.

Stephen Leith schluckte seit einigen Wochen Prozac (in der Schweiz unter dem Namen Fluctine im Handel), ein Antidepressivum. Damit hat er eines gemeinsam mit fast allen Amokläufern der vergangenen Jahre: Sie standen unter dem Einfluss von Antidepressiva wie Prozac, Zoloft oder Paxil oder litten unter Entzugserscheinungen, die durch diese Psychopharmaka – beziehungsweise ihr Absetzen – hervorgerufen wurden. Die Website www.ssristories.com listet knapp fünfzig «school shootings» auf, darunter auch das Gemetzel von Steven P. Kazmierczak. Der 27-jährige amerikanische Soziologiestudent hatte Anfang 2008 Prozac gerade erst abgesetzt und dann im Wahn fünf Studenten der Northern Illinois University sowie sich selbst erschossen. Seine Freundin Jessica Baty sagte gegenüber dem Sender CNN, Kazmierczak hätte sich durch Prozac «wie ein Zombie» gefühlt.

Dass Antidepressiva manische Zustände und Psychosen auslösen können, stellten die Forscher Donald Klein und Max Fink bereits 1962 in einem Paper fest, das im «American Journal of Psychiatry» publiziert wurde. 1987 wurde dann mit dem Medikament Prozac eine neue Klasse von Antidepressiva eingeführt: die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie erhöhen die Konzentration des Botenstoffs Serotonin in der Gewebeflüssigkeit des Gehirns, indem sie bestimmte Rezeptoren blockieren, die bei der Übertragung von Nervenimpulsen eine Rolle spielen. Das kann zu nachhaltigen Veränderungen der Hirnverbindungen führen. Ein grundsätzlich erwünschter Effekt, wie Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Berliner Universitätskrankenhaus Charité, gegenüber dem Berliner «Tagesspiegel» hervorgestrichen hat. Gerade Prozac wird in den USA werbewirksam als «Glückspille» bezeichnet.

Stephen Leith hatte einen Psychiater aufgesucht, nachdem er in eine depressive Gemütslage geraten war, als er mitansehen musste, wie seine an Krebs erkrankte Frau dem Tod immer näher kam. Der Arzt verschrieb ihm Prozac. «Nach zwei Wochen schlug das Medikament an, ich fühlte mich so voller Energie, dass der Schulleiter sogar dachte, ich sei auf Drogen», so Leith. Er verlor zunehmend die Kontrolle über sich selbst. «Ich liess jede Diskretion vermissen und verlor jegliches Schamgefühl. Viele Schüler fürchteten sich deshalb plötzlich vor mir.»

Drogenabhängig

Seit 1987 ist die Zahl derjenigen, denen SSRI verschrieben werden, vor allem in den USA stark gestiegen – aber auch in vielen anderen Industrieländern. Aus einer Analyse des Forscherteams um den Yale-Psychiater Adrian Preda, die 2001 im «Journal of Clinical Psychiatry» veröffentlicht wurde, geht hervor, dass in den Vereinigten Staaten pro Jahr mehr als 200 000 Menschen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, weil sie unter manischen und/oder psychotischen Zuständen leiden – hervorgerufen durch Antidepressiva oder durch sie ausgelöste Entzugserscheinungen.

Diese treten vor allem auf, wenn die SSRI zu schnell abgesetzt werden. Als Folge kann ein zeitweiliges Serotonindefizit im Gehirn entstehen, weil die durch die Antidepressiva blockierten Rezeptoren über längere Zeit inaktiv bleiben. Und das, so wird angenommen, hat dann Entzugserscheinungen zur Folge. Sie entsprechen weitgehend den Nebenwirkungen des Medikaments selbst: Magen-Darm-Beschwerden, Leberfunktionsstörungen, Impotenz, Krampfanfälle, Anämie, Verwirrtheit, Albträume, Panikattacken, Suizidgedanken und aggressive Verhaltensweisen. Die Entzugserscheinungen können über Wochen oder Monate, in krassen Fällen sogar länger als ein Jahr anhalten.

Stephen Leith hatte Prozac nicht abgesetzt – er litt vielmehr unter wesensverändernden Gefühlen, wie sie im Zusammenhang mit SSRI häufig als Nebenwirkung auftreten. Und dann, nach sechs Wochen, verkehrten sich die übersteigert euphorischen Gefühle ins Gegenteil. «Ich kippte in meine Depression zurück, litt unter Schlafstörungen und war ständig aufgewühlt», so Leith. «Zum ersten Mal rügte man mich in der Schule wegen meines Verhaltens. Ich wurde paranoid und glaubte, man wolle mich feuern. In mir brannte eine Wut, wie ich sie vor der Einnahme von Prozac nie erlebt hatte.» Ständige Kopfschmerzen plagten ihn, meistens war er verwirrt.

Falsch kombiniert?

Dass der Serotoninspiegel im Gehirn, den die SSRI ja beeinflussen sollen, überhaupt etwas mit Depressionen zu tun hat und dass Antidepressiva über kurz oder lang positive Effekte und nicht nur Nebenwirkungen haben, wird von Fachleuten bezweifelt. So erschien Anfang 2008 im «New England Journal of Medicine» eine Studie, die Daten von mehr als 12000 PatientInnen auswertete. Vernichtendes Fazit: SSRI sind kaum wirksamer als Placebo, Pillen ohne pharmazeutischen Wirkstoff.

Zu einem ähnlichen Resultat gelangte wenig später auch der britische Psychologe Irving Kirsch, nachdem er fast fünfzig Zulassungsstudien für verschiedene Antidepressiva untersucht hatte – darunter auch bislang unveröffentlichte Studien aus den Schubladen der US-Arzneimittelbehörde FDA: «Die Wirkung aller SSRI übersteigt die eines Placebos bei leichten Depressionen nicht – und selbst in schweren Fällen von Depression sind die Antidepressiva für die meisten Patienten in klinischer Hinsicht nicht besser.»

Für den US-Psychiater und Medikamentenkritiker Peter R. Breggin ist klar: «Es gibt keinen Beweis dafür, dass es gut ist für das Gehirn, wenn man seine chemische Zusammensetzung durch die Gabe von Antidepressiva langfristig ändert.» Vielmehr könnten die Gehirnfunktionen, wie gut dokumentierte Fallberichte zeigten, durch die Präparate schweren Schaden erleiden. Ausserdem seien die Beweise dafür, dass SSRI schwer depressiven Menschen helfen, schwach – «so schwach, dass die depressivsten Patienten, also suizidgefährdete, manisch-depressive und hospitalisierte Menschen, von Studien zu Antidepressiva ausgeschlossen werden». Breggin hat seine Kritik an der Fixierung auf wesensverändernde Psychopharmaka 2008 in seinem Buch «Medication Madness» zusammengefasst.

Beipackzettel warnt: Suizidgefahr!

Stephen Leith ist überzeugt: «Alles Schreckliche, was ich vielen Menschen angetan habe – dem Schulleiter und dessen Angehörigen oder auch meiner Frau, die ich in ihrem Sterben im Stich gelassen habe –, wäre nie passiert, wenn ich nicht Prozac genommen hätte.» Er hat die US-Medikamentenzulassungsbehörde FDA in einem persönlichen Brief dazu aufgefordert, das Medikament vom Markt zu nehmen.

2004 verfügte die FDA, dass auf den Beipackzetteln von Antidepressiva ausdrücklich darauf hingewiesen werden muss, dass insbesondere Kinder unter achtzehn Jahren einer erhöhten Suizidgefahr ausgesetzt sind, wenn sie SSRI einnehmen. Zwei Jahre später erweiterte sie diese Warnung auf alle Personen, die jünger sind als 25. Solche sogenannte Blackboxwarnungen, die ihren Namen dem schwarzen Rahmen verdanken, der den Text der Warnung umgibt, sind das stärkste Mittel der FDA, um mit Nachdruck vor schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Nebenwirkungen von Medikamenten zu warnen.

Vor Gericht sind Antidepressiva wie Prozac im Zusammenhang mit Amokläufen bisher nicht schuldig gesprochen worden. Die Herstellerfirma Eli Lilly insistiert, dass Prozac Millionen von Menschen geholfen habe. Gegenüber dem «British Medical Journal» sagte sie 2005: «Die Sicherheit und Wirksamkeit von Prozac ist gut untersucht, dokumentiert und etabliert.»

Vor kurzem kam es erneut zu einem tragischen Todesfall: Der siebenjährige Gabriel Myers aus Florida erhängte sich in der Dusche seines Pflegeheims. Wenige Wochen vor seinem Tod wurden Myers vier Psychopharmaka verschrieben, von denen er zwei bis drei kurz vor seinem Tod genommen hatte: Die beiden Antidepressiva Lexapro und Symbyax, das Medikament Vyvanse zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) sowie Zyprexa, das hauptsächlich bei schizophrener Psychose eingesetzt wird.

Doch nicht nur wurde bei dem Siebenjährigen gar keine Schizophrenie diagnostiziert, wie der Yale-Psychiater David Katz kritisiert. Auch sind mit Ausnahme des ADHS-Präparats die Beipackzettel aller Medikamente mit einer Blackboxwarnung vor erhöhtem Selbstmordrisiko versehen. Für die Verabreichung an Kinder sind sie ausserdem gar nicht zugelassen. «Wenn Kinder derart wirkungsreiche Präparate nehmen, so ist das extrem riskant», sagt Katz. «Solche Medikamente können durchaus ein Faktor sein, wenn Leute Selbstmord begehen oder andere schreckliche Taten.»

Der siebzehnjährige Tim Kretschmer, der Mitte März im deutschen Winnenden insgesamt fünfzehn Menschen und anschliessend sich selbst erschossen hat, soll ein Faible für Schusswaffen gehabt und Stunden mit gewaltgeprägten Action-Videospielen vor dem Computer zugebracht haben. Und er war seit 2008 in psychiatrischer Behandlung, weil er depressiv war. Ob bei der Obduktion von Tim Kretschmers Leiche nach Spuren von Antidepressiva gesucht wurde, war von den Behörden nicht zu erfahren. Allerdings lassen sich die meisten Antidepressiva nur zwölf Stunden nach der Einnahme mit gängigen Labormethoden bereits nicht mehr nachweisen. Wie auch immer der toxikologische Obduktionsbericht ausfällt, der seit Mitte Mai erwartet wird: Ein Freispruch für Antidepressiva wie Prozac ist er nicht.


Des Kaisers neue Drogen

Antidepressiva gelten in der modernen Medizin als sichere und effiziente Mittel, um die geistige Balance und Gesundheit eines Menschen wiederherzustellen. Der britische Psychologe Irving Kirsch von der Hull University hat sich wie ein Maulwurf durch den riesigen Berg an klinischen Studien zur Wirksamkeit von Antidepressiva gewühlt, um festzustellen: Diese Erkenntnis fusst mehr auf der gut geölten Marketingmaschinerie der Pharmabranche denn auf der tatsächlichen Evidenz aus klinischen Studien. Tatsächlich sind Antidepressiva oft nicht nur weniger effektiv als andere Behandlungsformen, sie sind auch gefährlicher, wie Kisch in seinem neuen Buch zeigt.

Irving Kirsch: «The Emperor’s New Drugs. Exploding the Antidepressant Myth». Random House. London 2009. £ 10.99.