CU there : Es wird gross
Kennen Sie dieses Gefühl? Dieses: Ach, es ist gerade so – puuh. Ja. Irgendwie nicht so – wie kann es schon wieder Oktober – und dann der Nebel. Und muss das denn – und die Wäsche. Und die Krankenkasse. Und dann im Feed. Im Radio. In der Zeitung. Shrimp Jesus. Gummischrot. Der nächste Arschlochtyp. Oder «performative male». Drohnen. «Twilight»-Memes. Dann schreit wieder wer WIRTSCHAFT. Oder WEHRPFLICHT. Und dann wieder die Wäsche.
Ist gerade nicht so einfach, das mit dieser Zukunft und der Perspektive und dem Gemeinsinn. Gut, wir haben in der Stadt Zürich bald ein ÖV-Abo, das diesen Namen auch verdient, also öffentlich, as in: «für alle bestimmt», für jede:n zugänglich. So definiert das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache «öffentlich», und die müssen es ja wissen. (Fun Fact: Gemäss Verlaufskurve im untersuchten Zeitungskorpus hatte «öffentlich» seinen Peak im Jahr 1992, was war denn da los? Insidertipps gerne an mich!)
Da steht unter der Bedeutungsübersicht auch: «vor aller Augen, Ohren, vor allen Leuten, allen sichtbar, hörbar», und dazu gäbe es jetzt eine Menge zu sagen, gerade aus feministischer Perspektive, denn an Sichtbarkeit musste ich vor allem denken, als mir vorgestern auf dem Heimweg dieses Plakat an einem Betonpfeiler begegnete:
«ES WIRD GROSS CARE STRIKE 2027»
Schwarz auf Signalgelb, auf einer Seite schon eingerissen, aber unmissverständlich, der Aufruf des feministischen Streikkollektivs für die grosse Demo und den Streik 2027. Zweitausendsiebenundzwanzig! Wer weiss schon, was dann ist! Siehe oben! Oder ist das nur ein Gefühl meiner sogenannten Generation, dass alles ins Rutschen gerät und wir uns kaum vorstellen können, dass der Januar 2026 existieren wird?
Von Perspektivlosigkeit, Ernüchterung, Desillusionierung profitieren die Reaktionären, das sehen, hören, spüren wir gerade täglich. Dem müssen wir, «vor aller Augen», etwas entgegensetzen, und dieses signalgelbe Plakat wärmt mich auf eine Weise, die ich nur mit «Solidarität» übersetzen kann.
Für viele Frauen, Queers, trans und nichtbinäre Personen in meinem Umfeld ist der 14. Juni 1991 oder 2019, und alle Jahre seither, die prägendste politische Erfahrung im öffentlichen Raum – und darüber hinaus. Als ganz Züri, Basel, Bern, Luzern, St. Gallen, Genf, Lausanne, Biel, Chur, Obwalden, fucking Emmental unsere Begegnungszone war. «Vor allen Leuten, sichtbar, hörbar»: unsere Strassen, unsere Plätze, unsere Perspektive.
Und wenn mir das nächste Mal ein linker Dude die Ohren vollheult, dass «die Bewegung» fehlt, Bro: 2027, es wird gross.
Schriftsteller:in Laura Leupi (29) streift in der Kolumne «CU there» durch Begegnungszonen in Zürich und schreibt immer freitags über öffentlichen Raum, Zugänglichkeit und Verdrängung.