Migrationspolitik in Russland: Wer keinen Pass hat, wird schikaniert

Nr. 25 –

Die Einschränkungen für Ausländer:innen haben zuletzt stark zugenommen. Das hat auch mit einem erstarkten Nationalismus zu tun.

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«Sie sind Migrantin, Sie können hier nicht einfach so reinspazieren»: Eine uniformierte Mitarbeiterin des staatlichen Servicezentrums im Moskauer Aussenbezirk Goljanowo versperrt einer Frau mit Kopfbedeckung den Weg zum Informationsschalter. Für gewöhnlich werden dort Wartenummern für Angelegenheiten im Zuständigkeitsbereich dieser sogenannten Multifunktionszentren (MFZ) ausgegeben – Passanträge, Schulanmeldungen oder Einträge von Immobilien. Über 130 davon gibt es in der russischen Hauptstadt, um all ihren Einwohner:innen einen Zugang in Gehdistanz zu ermöglichen.

Seit rund einem Monat gilt dieses Privileg jedoch nur noch für Menschen mit russischem Pass. Ausländer:innen können ihre Anliegen bloss noch an wenigen Stellen weitab vom Zentrum vorbringen – und das stellt oft eine Herausforderung dar. An diesem Tag Ende Mai etwa werden in Goljanowo 500 Nummern ausgegeben – vier Stunden vor Feierabend harren aber noch rund 300 Personen aus, um an einem Schalter vorsprechen zu dürfen.

Und das ist längst nicht das einzige Problem, das Menschen ohne russische Papiere derzeit haben: Bis zum 1. Juli müssen sich alle beim staatlichen Onlineportal «Gosuslugi» einen verifizierten Account zulegen sowie sämtliche biometrischen Daten samt Stimmenaufzeichnung hinterlegen. Wer das nicht schafft, kann inskünftig keine auf den eigenen Namen registrierte Handynummer mehr nutzen – alte Handyverträge erlöschen dann automatisch.

Vorwand Verbrechensbekämpfung

Einige Kilometer südlich von Goljanowo befindet sich an der Metrostation Ljublino das einzige Moskauer MFZ, das nur Migrant:innen offensteht. In dem überfüllten Zentrum liegt Spannung in der Luft, die verschachtelten Gänge sind voller Menschen. Ab und an schallt die laute Stimme eines Wachmanns durchs Treppenhaus, durch das sich eine lange Schlange zieht: «Halten Sie Ihren Ausweis und eine notariell beglaubigte Übersetzung bereit!» Die zwei Frauen am Infostand sind immerhin um fachkundige Auskünfte bemüht.

Selbst wem es gelingt, die russische Telefonnummer zu behalten, kann sich nicht ruhigen Gewissens zurücklehnen. Denn seit dem – mutmasslich von tadschikischen Staatsangehörigen begangenen – Terroranschlag in der Moskauer Crocus City Hall im März 2024 mit 145 Toten arbeiten die Behörden in rasantem Tempo an der Reglementierung und Eindämmung der Migration.

Glaubt man dem Leiter des russischen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, dienen die Massnahmen vorrangig der Verbrechensbekämpfung. Swetlana Gannuschkina hat da allerdings so ihre Zweifel. «Es ist wirklich erstaunlich, wie negativ und misstrauisch man sich Menschen gegenüber verhält, mit denen wir jahrhundertelang in einem Land gelebt haben», echauffiert sich die renommierte Migrationsexpertin, die der russische Staat als «ausländische Agentin» verunglimpft. Gannuschkina vermutet eine andere Absicht: «All dies steht ganz im Einklang mit der Bekämpfung jeglicher Form von Migration, nicht nur der illegalen.»

Die Gründe für das harte Vorgehen der Behörden dürften komplex sein – Hintergrund ist aber nicht zuletzt die Zunahme eines offen nationalistischen Diskurses im Land. Ende 2020, weit vor der Vollinvasion in die Ukraine also, entstand die Gruppierung Russkaja Obschtschina (Russische Gemeinschaft), die offen gegen Arbeitsmigrant:innen aus den ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken hetzt. Der Staat lässt sie nicht nur weitgehend gewähren, bei Razzien operieren staatliche Kräfte sogar oft Hand in Hand mit Russkaja Obschtschina. Auch Ermittlungskomiteeleiter Bastrykin wird eine ideologische Nähe zur Organisation nachgesagt.

Dass Migrant:innen in Russland von den Behörden schikaniert werden, ist so auch keine Neuigkeit – auch wenn die Restriktionen in den letzten Monaten immer grössere Ausmasse angenommen haben. So dürfen Kinder ohne russischen Pass seit April nur noch nach bestandenem Sprachtest eine Schule besuchen. Und bereits seit Februar existiert ein «Register kontrollpflichtiger Personen»: Erfasst werden darin alle ausländischen Staatsangehörigen, deren Aufenthaltstitel erloschen sind – beispielsweise weil der Arbeitsvertrag abgelaufen ist, das Visum annulliert oder ein Asylantrag negativ beantwortet wurde.

Für Betroffene gelten grosse Einschränkungen: Ohne behördliche Erlaubnis darf der Aufenthaltsort nicht gewechselt werden, und auch alle Bankgeschäfte sind – bis auf das Abheben kleinerer Beträge – untersagt. Ebenfalls verboten sind Eheschliessungen, Autokäufe oder die Anmeldung einer selbstständigen Tätigkeit. Mit dem Register können sich die Behörden nicht nur einen besseren Überblick verschaffen, sondern erhalten auch besseren Zugriff auf die erfassten Personen – mit dem Ziel, diese leichter ausschaffen zu können. Anfang März umfasste es nach Angaben des russischen Innenministers 685 000 Personen.

Totale Kontrolle

Insgesamt beziffert das russische Innenministerium die Anzahl der in Russland lebenden Ausländer:innen auf 6,2 Millionen – rund 1,6 Millionen davon in Moskau. Es handelt sich dabei überwiegend um Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, insbesondere aus Zentralasien. Die meisten von ihnen verrichten schlecht bezahlte Arbeiten im Handel, auf dem Bau, in der Personenbeförderung oder als Reinigungskräfte.

Gleichzeitig hat allein im vergangenen Jahr fast die Hälfte der russischen Regionen Arbeitsverbote für Zugewanderte erlassen – was in erster Linie Tätigkeiten wie Taxifahren und Kurierdienste betrifft wie auch Arbeit im Handel, in der Landwirtschaft oder im Bildungsbereich, weitaus seltener geht es um das Baugewerbe. Komplett verzichten kann und will die russische Wirtschaft auf sie aber nicht. Bei einem Auftritt am internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg verlangte Präsident Wladimir Putin, bevorzugt Fachkräfte «mit Kenntnissen der Sprache und der Traditionen» Russlands anzuwerben.

Wo diese herkommen sollen, sagt Putin nicht. Und in die berufliche Aus- oder Weiterbildung für Menschen aus den Nachbarländern will der Staat nichts investieren. Die Integration in eine Gesellschaft, die auf diskriminierende Massnahmen und grösstmögliche Kontrolle setzt, wird so eher behindert als befördert. Mittlerweile dürfte Russlands Aufenthaltsrecht zu den strengsten weltweit gehören.

Ab Ende Juni kommt eine weitere Regelung hinzu: Staatsangehörige ohne Visapflicht müssen fortan spätestens 72 Stunden vor der Einreise ihren Reisegrund und die geplante Aufenthaltsdauer an die Sicherheitsbehörden übermitteln. Damit ist Russland zwar längst nicht allein – doch klar ist auch, dass die Behörden chinesische Verhältnisse anvisieren.

Kürzlich hat das Parlament in Rekordgeschwindigkeit ein Gesetz verabschiedet, das die Weichen für eine totale digitale Überwachung von Ausländer:innen stellt. Und ab September ist in Moskau und Umgebung – zunächst für eine Laufzeit von fünf Jahren – ein Experiment geplant, das später landesweit Anwendung finden soll: Wer ohne Visum nach Russland einreisen kann, wird inskünftig verpflichtet, seinen Standort alle drei Tage per App mit den Behörden zu teilen. Andernfalls erlischt die Anmeldung am Wohnort, die für alle Reisenden obligatorisch ist – ein gravierender Verstoss gegen das Aufenthaltsrecht.