Widerstand in Russland: «Das ist nicht unser Krieg!»

Nr. 39 –

Proteste, Brandsätze gegen Militärämter, Flucht ins Ausland: Wladimir Putins Mobilmachung löst Wut und Verzweiflung aus. Eine Million Männer könnten in den Krieg gegen die Ukraine geschickt werden.

«Ich sage es doch schon die ganze Zeit: Man muss die Rekrutierungsämter einfach abfackeln!» Die Stimme einer Frau mittleren Alters ertönt in einer Lautstärke, dass es für die Mitfahrenden im Moskauer Stadtbus schlichtweg unmöglich ist, ihr Telefongespräch zu ignorieren. Ein junger Mann, der mit dem Rücken zur Sprecherin sitzt, lauscht mal mit dem rechten, mal mit dem linken Ohr. Es geht um Namenslisten, die ihr Chef für die Militärrekrutierung zusammengestellt hat, um Kollegen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, und darum, etwas zu unternehmen, damit es so weit gar nicht erst kommt.

Zwischen Musterung und Entsendung an die Front liegen nur wenige Tage, wenn überhaupt.

Es ist der 21. September. Tag eins der von Präsident Wladimir Putin ausgerufenen «Teilmobilmachung». Offiziell sollen 300 000 Wehrtaugliche schnellstmöglich erfasst und als Verstärkung an die Front geschickt werden. Inoffiziell dürften die Rekrutierungszahlen viel höher sein – gar von einer Million Männern ist die Rede (vgl. «Sagt nein, und geht nicht hin»). Manch einer bleibt trotzdem gelassen, heisst es doch vom Verteidigungsministerium, dass klare Prioritäten für Männer mit Militärerfahrung bestünden. Gleichzeitig machen erste Nachrichten von wahllosen Rekrutierungen die Runde. Kompetente Ratschläge, welche legalen Optionen offenstehen, um nicht in die tödlichen Mühlen der russischen Kriegsmaschinerie zu geraten, sind hingegen noch kaum im Umlauf.

Erst ein oder zwei Tage später tauchen im Netz detaillierte Verhaltensregeln auf, wie das vom kritischen Internetportal «Mediazona» verbreitete «Merkblatt für Verweigerer». Dafür landet schon in der auf Putins Dekret folgenden Nacht der erste Brandsatz in einer Rekrutierungsstelle des Militärs. Weitere folgen.

Chef:innen sollen Rekruten melden

Selbstverständlich finden sich in der russischen Bevölkerung Enthusiasten, denen die Mobilmachung den Weg in den bewaffneten Kampf für das nebulöse Ziel einer «russischen Welt» ebnet. Andere ergeben sich einfach ihrem Schicksal, weil sie von klein auf gewohnt sind zu tun, was ihnen abverlangt wird. Für den Rest lautet das Gebot der Stunde, einen grossen Bogen um Rekrutierungsämter zu machen und nicht an der offiziellen Meldeadresse zu wohnen; damit minimiert sich die Wahrscheinlichkeit, einer Militärpatrouille in die Arme zu laufen. Allerdings sind Chef:innen verpflichtet, potenzielle Rekruten zu melden – auch wenn dem nicht alle nachkommen.

«Bei erstmaligem Nichterscheinen zur Musterung sind keine strafrechtlichen Konsequenzen vorgesehen, lediglich eine Busse in Höhe von umgerechnet bis zu fünfzig Euro», erklärte Sergei Kriwenko, Direktor der Menschenrechtsgruppe «Bürger.Armee.Recht». Das gelte auch, wenn die betroffene Person die Vorladung zum Militärdienst quittiert habe, denn die Unterschrift stelle lediglich den Nachweis über die korrekte Aushändigung derselben dar. Würden weitere Vorladungen ignoriert, könne dies allerdings durchaus als Verweigerung des Wehrdienstes interpretiert werden. Darauf stehen bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug. «Aber rechtlich gesehen ist völlig unklar, ab welchem Moment eine Strafverfolgung droht.»

Anders als bei Zeitsoldaten, die sich freiwillig für einen Kriegseinsatz gemeldet haben, braucht es bei der Mobilmachung keinen Vertragsabschluss. Nach der Musterung und dem anschliessenden Tauglichkeitsbeschluss der Militärkommission sind die Einberufenen offiziell Teil der Truppe. Erst ab diesem Zeitpunkt gelten für sie die – am Tag vor der Mobilmachung verschärften – Strafregelungen für Wehrdienstverweigerung: neu bis zu fünfzehn Jahre Gefängnis. Zwischen Vorladung, Musterung und Entsendung an die Front liegen allerdings oftmals nur wenige Tage – wenn überhaupt. Zudem häufen sich Nachrichten, dass für Armeeneuzugänge weder eine theoretische Einführung noch eine praktische Ausbildung zur Vorbereitung auf einen Kampfeinsatz vorgesehen sind.

Nach Georgien oder Kasachstan

Frei nach dem Motto «Rette sich, wer kann» versuchten nicht wenige, Zuflucht im Ausland zu finden. Während die baltischen Staaten und Polen ihre Grenzen auch für Wehrdienstverweigerer weitgehend geschlossen haben, bleiben für eine Ausreise auf dem Landweg für Personen mit gültigem Schengen-Visum bis auf Weiteres noch Finnland und Norwegen. Auch Georgien und die Mongolei lassen russische Staatsangehörige einreisen, Kasachstan sogar ohne Reisepass. Doch ein längerfristiges Aufenthaltsrecht ergibt sich dadurch nicht.

Immerhin haben freiwillige Helfer:innen in grenznahen kasachischen Städten Netzwerke aus dem Boden gestampft, um aus Russland Geflüchteten mit Verpflegung, Unterkünften und Fahrdiensten beizustehen. Allerdings lassen die russischen Grenzbehörden längst nicht alle Männer im wehrfähigen Alter passieren. Von der Grenze zu Georgien berichteten Wartende zudem, dass die georgische Grenzwache häufig Männern aus dem Nordkaukasus die Einreise verwehre, im Gegensatz zu Menschen aus anderen russischen Regionen.

Die Möglichkeiten der Zurückgebliebenen sind wenig erfreulich: Sich eine Zurückstellung bescheinigen zu lassen, bedeutet, ins Visier der Rekrutierungsstellen zu geraten. Keiner Lohnarbeit nachzugehen, auch nur über einen überschaubaren Zeitraum, können sich längst nicht alle leisten. Zum offenen Protest entscheiden sich eher Frauen, denen bis auf wenige Ausnahmen kein Einzug ins Militär droht. Jungen Männern wurde nach der Festnahme bei Aktionen zum Teil eine Armeevorladung in die Hand gedrückt. Bei den Polizeieinsätzen kamen teilweise auch Elektroschocker zum Einsatz.

Antikoloniale Stimmung

Der Versuch, eine Antikriegskundgebung in Jakutien abzuhalten, wurde von der Leiterin der lokalen Gesellschaftskammer kurzerhand zu einem entpolitisierten Ritual umfunktioniert, bei dem Frauen die lebende Rückkehr ihrer Männer und Söhne beschwören. Trotzdem nahm die Polizei etwa zwei Dutzend Teilnehmende fest.

Bilder aufgebrachter Menschenmengen gibt es aus der Region Dagestan. Aus der grössten Nordkaukasusrepublik mit ihren über drei Millionen Einwohner:innen wurden bereits nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine zahlreiche Soldaten entsandt – per Vertrag und längst nicht alle unter Zwang. Doch aus Dagestan sind auch etliche Todesfälle von Soldaten bekannt geworden, und die nun geltende Mobilmachung ändert die Situation grundlegend: Zuvor abgeschlossene Zeitverträge gelten bis zum Ende der «Spezialoperation», also vorerst unbefristet. In der multiethnischen muslimischen Republik macht sich nun erstmals eine antikoloniale Stimmung lautstark bemerkbar, die stellenweise so weit geht, dass die Zugehörigkeit zu Russland infrage gestellt wird.

«Das ist nicht unser Krieg!», skandierten Menschen in der Hauptstadt Machatschkala am vergangenen Sonntag. Sie machten deutlich, dass nicht die Ukraine Russland überfallen hat, wie es in den Propagandamedien heisst, sondern umgekehrt. Bei Strassenblockaden in kleineren Orten hielt sich die Polizei noch zurück – nichts Ungewöhnliches im Kaukasus, wo doch weitverzweigte Verwandtschaftsbeziehungen das Alltagsleben mehr prägen als anderswo. Für Belustigung sorgte im Internet ein Video, das zeigt, wie ein Polizist vor Protestierenden die Flucht ergreift. Doch in Machatschkala oder Chasawjurt spielten sich auch üble Gewaltszenen ab, darunter brutale Festnahmen von Frauen.

Über den Telegram-Kanal «Utro Dagestan» (Morgen Dagestan) verbreiten sich Aufrufe für weitere Proteste und kreative Ideen, wie das Anbringen der Aufschrift «Stoppt die Mobilmachung» in roter Farbe an Hauseingängen und auf Wegen, die sich an die Bewohner:innen Moskaus und St. Petersburgs richtet.

Doch auch abgesehen davon, dass die Metropolen mit Kameras zur Gesichtserkennung gespickt sind, sieht es derzeit kaum nach einer organisierten Vernetzung der Proteste aus. Als lokale Brandbeschleuniger kommt ihnen aber jetzt schon eine gewisse Sprengkraft zu. So versammelten sich mutige tschetschenische Frauen vor der Hauptmoschee in Grosny, um gegen die Mobilmachung zu protestieren. Sie wurden umgehend festgenommen. Präsident Ramsan Kadyrow erklärte derweil später, Tschetschenien sei von der Mobilmachung nicht betroffen, weil die Republik ihr Plansoll längst übererfüllt habe.