Durch den Monat mit Olivier de Marcellus (Teil 2): Meditieren macht schlau, sagen Sie?
Keine Trennung zwischen Politik und Alltag machen: Das hat der Genfer Aktivist Olivier de Marcellus 1968 gelernt – kurz nachdem er dem Vietnamkrieg entkommen war. Und nach dieser Maxime lebt er noch heute.

WOZ: Olivier de Marcellus, Sie sind in den USA aufgewachsen. Warum sind Sie in die Schweiz gekommen?
Olivier de Marcellus: Das ist ein Geschenk, das mir Präsident Lyndon B. Johnson gemacht hat. Im April 1966, als Johnson 200 000 Soldaten nach Vietnam schickte, rief mich mein Vater an: «Hör mal, wolltest du nicht noch weiterstudieren?» Ich sagte, ja, aber ich hätte noch nicht genug Geld. Er hatte mir einige Semester an der Uni bezahlt, aber ich wollte nicht mehr abhängig sein. Darum arbeitete ich in Chicago für die Firma meines Bruders. Mein Vater war kein Linker, aber blöd war er auch nicht. Er sagte: «Ich zahl dir das Studium, aber du musst es im Ausland machen.»
Waren Ihre Eltern Schweizer?
Nein, mein Vater war Franzose, meine Mutter Engländerin. Sie waren in den zwanziger Jahren in die USA ausgewandert und hatten die US-Staatsbürgerschaft angenommen. Aber sie blieben sehr europäisch, sie waren keine gut integrierten Immigranten. Mein Vater sprach die Hälfte der Zeit französisch. Ich war nicht sehr politisiert damals, ich war nur gerade an einer einzigen Bürgerrechtsdemo gewesen. Aber ich wusste, dass ich auf keinen Fall nach Vietnam wollte. Mein Vater rief an, und zwei Wochen später stand ich in Genf mit meinem kleinen Koffer … Und hier bin ich geblieben (lacht).
Warum gerade Genf?
Ich wollte Psychologie studieren, und der Einzige, den ich damals spannend fand, war Jean Piaget. Für mich ist er eines der grossen Genies des 20. Jahrhunderts, auf dem Niveau von Freud und Einstein. Sein Thema war der Intellekt – er hat die Forschung über die intellektuelle Entwicklung von Kindern total verändert. Piaget lehrte hier in Genf, und ich sprach ja zum Glück Französisch. Später arbeitete ich mehrere Jahre als sein Assistent.
Sie kamen gerade rechtzeitig für 1968 …
Ja. Ich bin nie mehr aus 68 rausgekommen. Wir hatten die Vision, die Revolution im Alltag zu leben. Ich lebte in einer Kommune, wir versuchten, die Familie abzuschaffen, wir rauchten Shit und nähten unsere Kleider selber – sehr Hippie, das alles. Aber gleichzeitig waren wir knallhart politisch aktiv, antiimperialistisch, Besetzungen, Aktionen – das gehörte zusammen.
Heute gibt es oft einen Graben zwischen jenen, die den Alltag verändern wollen, und den «Politischen».
Absolut. Das begann damals schon. Es gab einen Moment, wo das Kulturelle, Künstlerische mit dem Politischen vermischt war. Aber als die Bewegung zerfiel wie ein Stern, der explodiert, zerstreute sich das Ganze in alle Richtungen. Danach glaubten die Leute nicht mehr, dass sie nächstes Jahr die Revolution machen würden. Um es übertrieben zu sagen: Es gab jene, die mit Geissen in die Ardèche zogen, und jene, die versuchten, die kommunistische Partei zu reformieren. Bald fingen sie an, sich die Haare zu schneiden, damit die Arbeiter ja nicht dachten, sie seien Hippies …
Sie haben diese Trennung nicht akzeptiert?
Nein, nie. Und ich war nicht der Einzige – es gab immer ein Milieu in Genf, die autonomen Marxisten, wir waren inspiriert von den italienischen Bewegungen der siebziger Jahre. Wir versuchten, diese Trennung zwischen Alltag und Politik nicht zu machen. Damals besetzten wir hier im Grottes-Quartier die ersten Häuser, wir mobilisierten gegen das Gefängnis Champ-Dollon, ein Kollege hat das erste Vertragslandwirtschaftsprojekt Europas gegründet. Die Frauen waren ziemlich separatistisch-feministisch, aber das waren ja unsere Partnerinnen, wir fühlten uns solidarisch. Ich habe immer Yoga gemacht und meditiert, manche fanden das total spaced, Hippiezeug! Aber mir hat es enorm gutgetan. Wenn ich heute noch so viel Energie habe, dann deshalb. Meditieren macht mich nicht nur viel glücklicher, sondern auch viel intelligenter!
Intelligenter?!
Ich weiss, das klingt seltsam – aber Meditieren ist mentales Training. Du lernst, an das zu denken, woran du denken willst, und nicht dauernd hin- und herzuspringen. Von der Politik zum Geschirr, das ich noch spülen müsste, und dann fällt mir ein, dass mein Kollege etwas gesagt hat, was mich nervt: So funktioniert das Denken normalerweise. Das ist sehr ermüdend – und nicht sehr effizient. Wenn ich früher einen Text schrieb, brauchte ich Stunden. Heute habe ich oft etwas im Kopf, wenn ich aufwache, und schreibe es gleich auf. Ich träume die Lösungen. Und ich spüre auch, dass die Meditation sehr gut ist für die körperliche Gesundheit.
Stossen Sie damit auf Unverständnis?
Es gibt alte Politos, die sagen: «Wenn ich meine Gewohnheiten ändere, ändert das überhaupt nichts. Es geht nicht um individuelles Konsumverhalten, sondern ums System – darum kann ich auch jedes Jahr in die Ferien fliegen.» Das finde ich genauso absurd, wie wenn man sagt: «Wenn alle Yoga machen würden, müssten sie keine Kriege mehr führen.» Die individuelle Veränderung erlaubt die strukturelle Veränderung, und die strukturelle Veränderung verändert das Individuum. Man muss diese beiden Kreise verbinden. Genau das ist für mich das Ziel des Klimafestivals Alternatiba.
Nächstes Jahr ist es fünfzig Jahre her, dass Olivier de Marcellus (72) in Genf ankam. Zurzeit hat er sehr viel zu tun mit der Vorbereitung des Klimafestivals Alternatiba, das ab 18. September in Genf stattfinden wird (www.alternatiba.ch).