Proteste in Serbien: Mit Humor gegen die Autokratie
In Serbien finden gerade die grössten Demonstrationen seit den neunziger Jahren statt. Ein Augenschein aus der Mitte der kreativen Proteste.

1. Februar, 14 Uhr, Rechtswissenschaftliche Fakultät von Novi Sad. Unter dem Motto «Drei Monate – drei Brücken» haben alle besetzten Fakultäten landesweit auch zur Besetzung von Brücken aufgerufen. Zahlreiche Studierende aus Belgrad haben einen zweitägigen Fussmarsch von der Hauptstadt nach Novi Sad hinter sich und treffen sich hier zu einer 24-stündigen Besetzung der drei zentralen Brücken über die Donau im Stadtzentrum. Mit rund 150 000 Teilnehmenden ist es die grösste Demonstration seit Beginn der Proteste im November 2024. Die anfänglich nur studentische Protestbewegung ist zu einer breiten gesellschaftlichen gewachsen: zur grössten seit den Protesten gegen den Kriegsverbrecher Slobodan Milošević. In ihrer Reichweite erinnert sie an 1968.
In allen Landesteilen wird der fünfzehn Opfer gedacht, die beim Einsturz des Bahnhofsvordachs vor drei Monaten umgekommen waren. Nachdem die Regierung unter Präsident Aleksandar Vučić die Ursache anfänglich im Baujahr 1964 gesucht hatte, reagierte man allmählich auf den öffentlichen Druck und nahm elf Personen fest, unter anderen auch den früheren Infrastrukturminister Goran Vesić: Der renovierte Bahnhof war erst im Juli 2024 in Betrieb genommen worden. Doch den Studierenden reichen diese «Scheinfestnahmen» nicht. Sie fordern die Offenlegung der Untersuchungsresultate und strafrechtliche Folgen.
Vučić mit dicker Lippe
Es scheint, als sei halb Belgrad nach Novi Sad im Norden des Landes gereist. Das bedeutet der Stadt viel, wurde ihr doch von Vučić und seinen medialen Verstärkern «Separatistentum» vorgeworfen. Den protestierenden Studierenden wird ausserdem «Verrätertum» und eine ausländische, westliche Finanzierung unterstellt.
Dass man sich hier in der Vojvodina befindet, einer vom Habsburgerreich geprägten autonomen Republik, verraten nicht nur die ein- und zweistöckigen Häuser, sondern auch die ungarischsprachigen Proteststicker an Laternenpfosten und Stromkästen. Der Spruch «An euren Händen klebt Blut» mit einem blutroten Handabdruck ist zum Symbol der Bewegung geworden und hängt als grosses Transparent am Eingang jeder besetzten Fakultät im Land. Hier liest man den Spruch auf Ungarisch: «Véresek a kezeitek!»
Ende Januar war der serbische Premierminister Miloš Vučević nach den Massenprotesten zurückgetreten. Warum machten die Studierenden nach diesem Rücktritt trotzdem weiter? «Weil wir keinen Rücktritt, sondern funktionierende Institutionen gefordert haben», sagt einer von ihnen. Dazu gehört eben auch eine saubere strafrechtliche Aufklärung zum eingestürzten Bahnhofsdach, womit der Präsident indirekt vor Gericht zitiert wird.
Die Waffen der Studierenden sind eine reibungslose Organisation der Proteste, die Kompromisslosigkeit ihrer Forderungen und vor allem ihr Humor. Auf Transparenten wird Vučić auf den Arm genommen, etwa indem er als Diva, mit geschminkten aufgespritzten Lippen versehen, «unser Amigo» genannt wird. Ana Brnabić, die Präsidentin der serbischen Nationalversammlung, hatte im staatlich kontrollierten Fernsehen von der Popularität Vučićs in Venezuela geschwärmt; dort würde man Vučić als «Amigo» bezeichnen.
Revolution liegt in der Luft
Auf einem anderen Plakat ist Vučićs Gesicht auf der Packung einer bekannten Margarinemarke zu sehen. Dazu heisst es «passt zu allem», was auf Serbisch zugleich «kann in alles gemischt werden» bedeutet. Damit wird die Einmischung des Präsidenten in die Arbeit der Institutionen und seine Omnipräsenz im Fernsehen kritisiert. Andere haben dem absolutistischen Monarchen Ludwig XVI. und seiner Frau Marie-Antoinette, die im Zuge der Französischen Revolution guillotiniert wurden, die Gesichter von Aleksandar Vučić und Ana Brnabić verpasst. Revolution liegt in der Luft.
Mit dieser Collage wird aber nicht nur ein revolutionäres Moment evoziert, sondern man macht sich auch über Vučićs Paranoia lustig: Dieser versucht derzeit im staatlichen Fernsehen, mit Tabellen und Fotos die Bevölkerung in Dauerschleife davon zu überzeugen, dass man seine Ermordung plane. Eine weitere Studentin entschied sich für eine Szene aus dem in Serbien sehr bekannten Film «Fürchterlich kalt», in dem der Protagonist sagt: «Es ist nicht schön, dass du lügst.»
Überhaupt sind die Plakate voll mit Anspielungen auf serbische Literatur und Filme, aber auch mit Zitaten aus der globalen Popkultur. Auf einem weiteren Transparent zieht Fred Jones, Hauptfigur aus der Cartoonserie «Scooby-Doo», dem Präsidenten Vučić die Maske ab, um seine wahre Identität als Verbrecher zu entlarven. Auf Schritt und Tritt trifft man auf Verballhornungen der amtierenden Regierung, die man für ein autokratisches politisches System und einen chronisch korrupten Kapitalismus verantwortlich macht. Mit Ironie wird der herrschende Graben zwischen Diskurs und Realität ausgeleuchtet.
Den Lügen und der Propaganda begegnen die Studierenden nicht mit Argumenten, sondern mit Witz. Sie fordern die toxische Medienkultur heraus und führen sie als wirklichkeitsferne Erfindung vor. Statt sich auf die Spielchen des Präsidenten einzulassen, machen sie ihre eigenen.