Widerstand in Serbien: Wie ein Lauffeuer

Nr. 2 –

Besetzte Unis und Demos mit Rekordbeteiligung: Der Einsturz eines Bahnhofsvordachs mit fünfzehn Toten sorgt in Serbien seit Wochen für Proteste. Treibende Kraft ist die Jugend des Landes. Aber kann sie die Regierung von Aleksandar Vučić zu Fall bringen?

Mila Pajić in der besetzten Universität in Novi Sad
«Die Tragödie war ein Weckruf»: Mila Pajić in der besetzten Universität in Novi Sad.

Es ist ein klirrend kalter Wintermorgen wenige Tage vor dem orthodoxen Weihnachtsfest Anfang Januar. Mila Pajić wacht im dritten Stock der Philosophischen Fakultät der Universität im nordserbischen Novi Sad auf. Wo sie bis vor sechs Wochen noch Publizistikvorlesungen besuchte, schläft sie heute auf einer Matratze auf dem Boden. Im Foyer im Erdgeschoss türmen sich Süssigkeiten und Früchte, auch einen Weihnachtsbaum haben Pajić und ihre Kommiliton:innen geschmückt. Weihnachten feiern sie dieses Jahr in ihrer Uni. Und damit sind sie nicht allein: Sechzig Fakultäten im ganzen Land sind derzeit besetzt.

Nicht nur die Studierenden sind auf den Barrikaden: Seit dem Einsturz eines Vordachs am Bahnhof von Novi Sad Anfang November erlebt Serbien die grössten Demonstrationen seit den neunziger Jahren. Fast täglich kommt es zu Strassenblockaden. Viele sehen in der Tragödie mit fünfzehn Toten die Folge jahrelanger Korruption und Misswirtschaft der Regierung von Aleksandar Vučić: Die Renovierung des Bahnhofs war gerade erst abgeschlossen worden – finanziert durch ein bilaterales Abkommen mit China, das unter strenger Geheimhaltung steht.

Jahrzehntelange Misswirtschaft

«Solche Deals sind in Serbien gang und gäbe», sagt Nebojša Vladisavljević, Politologe an der Universität Belgrad. Sie ermöglichen der Regierung, Aufträge ohne entsprechende Ausschreibung an staatsnahe Baufirmen zu vergeben, die diese überbezahlt, aber unzureichend durchführen. «Die Regierungspartei verwaltet die öffentlichen Ressourcen zu ihrem eigenen Vorteil.»

Es ist nicht das erste Mal, dass diese Praxis auf den Widerstand der Bevölkerung stösst. Die Unzufriedenheit über die seit 2012 regierende rechtskonservative Fortschrittspartei (SNS) wächst. Wahlbetrug, die Einschränkung der Pressefreiheit sowie gewalttätige Angriffe gegen Journalistinnen oder politische Gegner sorgten in den letzten Jahren immer häufiger für anhaltende und teils massenhafte Proteste. Und doch gebe es diesmal einen entscheidenden Unterschied, meint Vladisavljević: Zum ersten Mal seit den neunziger Jahren sei die junge Generation die treibende Kraft hinter den Protesten. Warum? «Die Tragödie von Novi Sad war ein Weckruf. Sie hat gezeigt, dass der Alltag in Serbien durch die jahrzehntelange Misswirtschaft buchstäblich lebensgefährlich geworden ist», sagt Studentin Mila Pajić.

Versammlungsort im Foyer der Universität
Mit genug Lebensmitteln lässt es sich hier noch lange durchhalten: Im Foyer der Universität.

Dass ihre Generation bis vor kurzem noch als unpolitisch verrufen war, liesse sich im Hörsaal der Universität in Novi Sad heute nicht vermuten. Rund 200 Studierende haben sich hier zu einem Plenum versammelt. Auf der Agenda steht neben dem Putzplan auch die Vernetzung mit den anderen besetzten Unis. Im Gegensatz zu vorangegangenen Protestbewegungen ist diese dezentral organisiert. Die einzelnen besetzten Fakultäten treffen ihre Entscheidungen autonom in ihren Versammlungen, die von wechselnden Arbeitsgruppen moderiert werden. Auch die Repräsentanz nach aussen will die Bewegung nicht auf einzelne Gesichter konzentrieren.

Das soll sie auch für gezielte Angriffe der Regierung weniger verwundbar machen. Infolge der ersten grossen Proteste nach dem Bahnhofseinsturz griff diese zur Verhaftung zahlreicher Aktivisten und Oppositionspolitiker – zum Teil für mehrere Wochen. Auch Mila Pajić wird am 8. November zusammen mit einer weiteren Aktivistin auf dem Weg zu einer Strassenblockade festgenommen. Sechs schwarz gekleidete Männer bringen sie mit Jeeps an einen unbekannten Ort, an dem sie mehrere Stunden verhört werden. Als ihre Eltern sie als vermisst melden, dementieren sowohl die Polizei als auch der Geheimdienst, die beiden in Gewahrsam zu halten. «Entweder ist das alles ausserhalb des Protokolls passiert, oder die Regierung setzt ihre inoffiziellen Sicherheitskräfte gegen uns ein», vermutet Pajić.

Ungewöhnliche Allianz

Der Einsatz von beispielsweise Hooligans zur Niederschlagung von Protesten ist in Serbien ein altbekanntes Mittel. Diesmal verfehlt es seine Wirkung jedoch: Als Angreifer, die von der Belgrader Staatsanwaltschaft später als SNS-Funktionäre identifiziert werden, am 22. November eine Gedenkkundgebung von Studierenden der Darstellenden Kunst in Belgrad attackieren, besetzen diese kurzerhand ihre Fakultät. Wie ein Lauffeuer breitet sich die Besetzungsstrategie anschliessend von Uni zu Uni aus. In Bedrängnis geraten, sucht die Regierung nun nach einer neuen Strategie. Präsident Vučić gibt sich gesprächsbereit und betonte jüngst, die Forderungen der Studierenden erfüllt zu haben: Ein Teil der bislang geheimen Dokumentation der Bahnhofsrenovierung wurde offengelegt, auch traten drei Minister zurück.

Damit gibt sich Serbiens frischgebackene Studierendenbewegung allerdings nicht zufrieden. Sie will in grosse Fussstapfen treten: 1996 waren es ebenfalls Studierende, die die Proteste gegen den damaligen Präsidenten Slobodan Milošević ins Rollen brachten – und ihn im Jahr 2000 schliesslich stürzten. Könnte Aleksandar Vučić bald das gleiche Schicksal ereilen?

Einfach dürfte das nicht werden. Denn der Präsident hat seine Macht in den vergangenen dreizehn Jahren fest konsolidiert. Öffentliche Einrichtungen und Medien stehen nahezu vollständig unter seiner Kontrolle. Doch mit Lehrer:innen, dem Gesundheitspersonal und Rechtsanwält:innen haben sich zuletzt auch kritische Teile des öffentlichen Dienstes den Protesten angeschlossen. Zur Rekorddemonstration vom 22. Dezember in Belgrad, bei der das Oppositionsmedium N1 102 000 Teilnehmer:innen zählte, hatten die Studierenden gemeinsam mit Landwirt:innen aufgerufen.

Eine ungewöhnliche Allianz? Nicht, seit 2021 ein geplantes Lithiumprojekt des australischen Bergbauriesen Rio Tinto im westserbischen Jadar-Tal breiten Widerstand auf den Plan gerufen hatte. Quer durch alle politischen Lager ist das Projekt zum Symbol für den «Verkauf» des Landes an Konzerne geworden und sorgt für Bündnisse zwischen linken urbanen Mittelschichten und ländlichen Gebieten, in denen Vučićs traditionelle Wähler:innenbasis verankert ist.

So gefährlich ihm das Lithiumprojekt innenpolitisch ist, so gekonnt setzt es Vučić aussenpolitisch als Waffe ein. Denn auch die EU will ihre Autoindustrie mit serbischem Lithium versorgen – und schaltete sich jüngst vermehrt ins geopolitische Kräftemessen mit Russland und China auf dem Balkan ein. Wenige Tage vor dem Bahnhofseinsturz lobte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Serbiens Beitrittsbemühungen. Angesichts der aktuellen Proteste bleibt Brüssel indes auffallend still.

Keine Hoffnung auf die EU

Mila Pajić und ihre Mitstreiter:innen scheint das nicht zu überraschen. Setzte die Generation ihrer Eltern bei den Protesten gegen Milošević noch grosse Hoffnungen in einen EU-Beitritt, fühlen sich viele Serb:innen heute zum billigen Rohstofflieferanten oder gar zur «Kolonie» der EU degradiert. Politologe Nebojša Vladisavljević hält die internationale Unterstützung ohnehin nicht für einen entscheidenden Faktor im Kampf gegen das autokratische Regime.

«Natürlich würde es der Opposition helfen», meint er. Viel entscheidender sei jedoch bereits in den neunziger Jahren die Verbreiterung der Proteste gewesen. Dass diese heute erneut zu beobachten sei, stimmt den Forscher optimistisch: «Die Politisierung der Jugend wird weitreichende politische Folgen haben – in den sozialen Bewegungen und Oppositionsparteien, aber auch an den Wahlurnen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Proteste in den nächsten Jahren zum Sturz der Regierung führen werden.»

Ob es schon 2025 so weit sein wird? Das hofft Mila Pajić, die die Silvesternacht auf dem Rathausplatz von Novi Sad verbringt. Statt des üblichen Neujahrswalzers des SNS-Bürgermeisters Milan Đurić findet dort eine Demonstration statt. Während in der Ferne Raketen knallen, empfängt sie das neue Jahr mit fünfzehn Minuten Schweigen – eine für jedes Opfer, das am Bahnhof von Novi Sad sein Leben verloren hat. Grund zum Feiern gibt es für die Studierenden erst, wenn die Regierung von Aleksandar Vučić Geschichte ist.