Proteste auf dem Balkan: Jetzt übernimmt das Plenum
Nach der Brandkatastrophe in Nordmazedonien führen Student:innen den Protest gegen Behörden und Korruption an. Vorbild sind Universitäten in Serbien, die seit Monaten besetzt sind.
Ein Tag Anfang April an der Universität Skopje: Die Kälte kriecht durch die Schuhe, es sind knapp null Grad. Im Innenhof steht eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Studierenden eng beisammen, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Die Universitätsleitung hat ihnen das Abhalten ihrer Versammlung in den Räumen der Fakultät untersagt. Also draussen: vier Stunden Plenum, bei winterlicher Kälte. Die Tagesordnung wird mit Filzstift auf eine improvisierte Tafel geschrieben.
Mit der Annahme der Tagesordnung beginnt jede Plenarsitzung der neu gegründeten Studentischen Plenumbewegung (studentsko plenumsko dviženje) in Skopje. Formiert hat sich die Gruppe nach der Brandkatastrophe von Mitte März, als ein Feuer in einem Nachtclub in Kočani 63 Menschenleben und über 200 Verletzte forderte. Eine Tragödie, die nicht nur Nordmazedonien, sondern die gesamte Region aufwühlte – auch das Nachbarland Serbien.
Dort war bereits im November 2024 der Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad die Initialzündung für die grösste europäische Studierendenbewegung seit 1968. 60 von 86 Fakultäten in Serbien sind immer noch besetzt, Hunderttausende gingen auf die Strasse. In ganz Serbien haben die Student:innen autonome Proteststrukturen aufgebaut und sich die öffentliche Bühne zurückerobert. Für viele sind sie nun ein Vorbild, auch für ihre nordmazedonischen Kolleg:innen, die sich fragen: Können auch wir unser Land verändern?
Pietätlose PR-Aktion
Zunächst versuchte der angeschlagene serbische Präsident Aleksandar Vučić, die Katastrophe im Nachbarland für seine Zwecke zu nutzen. Einen Tag nach dem Brand besuchte er verletzte Opfer, die zur Behandlung nach Belgrad verlegt worden waren, im Spital – und liess sich dabei von einem Medientross mit elf Kameras begleiten, was in Nordmazedonien und Serbien für heftige Kritik sorgte. Vučić berührte Patient:innen auf der Intensivstation ohne Schutzkleidung; medizinisches Personal und die Öffentlichkeit warfen ihm vor, die medizinische Ethik verletzt und die Gesundheit der Patient:innen gefährdet zu haben. Die politisch motivierte PR-Aktion, die das Leid der Opfer instrumentalisierte, war an Pietätlosigkeit kaum zu überbieten.
In Nordmazedonien kommen derweil immer mehr Ungeheuerlichkeiten zum Brand ans Licht. So verfügten die Betreiber des Nachtclubs über eine gefälschte Lizenz und ignorierten Brandschutzauflagen. Innenminister Panče Toškovski sprach von einer «komplexen» Untersuchung: Unter Verdacht stehen über zwanzig Personen – darunter die Betreiber und Lokalpolitiker:innen. Angehörige der Opfer fordern Aufklärung und werfen den Behörden Untätigkeit vor, obwohl man sehr schnell Festnahmen vornahm und Untersuchungen einleitete. Wohl auch, um ein serbisches Szenario mit Massenprotesten zu verhindern, wie Student:innen der Uni Skopje gegenüber der WOZ mutmassen.
Gelebte Basisdemokratie
Das Skopje-Plenum ist im Gegensatz zur Bewegung in Serbien klein. Zur Gründung versammelten sich 120 Student:innen – in Serbien haben sich über 100 000 organisiert. «Die Studenten in Serbien haben viele von uns hier inspiriert mit ihrem unerschütterlichen Einsatz, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit ihre Forderungen erfüllt werden», teilt das nordmazedonische Kollektiv der WOZ mit. Als vergangenen November Theaterstudent:innen in Belgrad auf offener Strasse angegriffen wurden, gehörten die Student:innen in Skopje zu den Ersten, die ihre Unterstützung für diese öffentlich bekundeten.
Auch sonst ist die serbische Student:innenbewegung ein Vorbild: etwa, was die neu geschaffenen basisdemokratischen Strukturen betrifft. Entscheide werden nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Arbeitsgruppen bereiten Themen vor, Ergebnisse werden im Plenum diskutiert und beschlossen. Debattiert werden vor allem Fragen der Selbstorganisation und der Abgrenzung.
Die serbischen Kolleg:innen sind nach mehreren Monaten schon weiter. Sie diskutieren bereits eine mögliche Regierung nach Vučić. Aber auch über die Grenzen und Nachteile von Basisdemokratie. Stojan Grujić, Student der Universität Belgrad, nennt als Probleme den immensen Zeitaufwand der täglichen Vollversammlungen – alle Studierenden in der Besetzung leben faktisch seit Monaten im Ausnahmezustand – und die teils ineffizient geführten Diskussionen.
Trotzdem sei es der richtige Weg, sagt Grujić. Wegen der dysfunktionalen Parteiendemokratie in beiden Ländern sei die Einmischung in politische Entscheidungsprozesse zwingend, denn die parlamentarische Opposition gilt als zu schwach oder korrumpiert, um als Alternative zum Status quo wahrgenommen zu werden. Sowohl die Student:innen in Serbien als auch diejenigen in Nordmazedonien legen Wert darauf, dass die Mitglieder der Plenen keine politischen Parteien repräsentieren. Die serbischen Student:innen haben wegen ihrer Distanz zur «offiziellen Politik» breite Rückendeckung in der Gesellschaft. Nach dem Vorbild der studentischen Plenen haben sich in vielen Städten und Gemeinden in Serbien sogenannte Bürger:innenversammlungen gebildet, die wichtige administrative und inhaltliche Fragen der Bevölkerung diskutieren.
Grassierende Korruption
Was die junge Generation Z aus beiden Ländern eint: das Gefühl, dass Leben durch staatliches Versagen und Korruption ausgelöscht wurden – und dass das immer wieder passieren kann, solange Verantwortungslosigkeit folgenlos bleibt. Die politisch verschuldete Brandkatastrophe in Kočani gilt vielen als Symptom eines korrupten und maroden Systems. Korruption prägt in Nordmazedonien und anderen Ländern Südosteuropas den Alltag – ob bei Arztterminen, Jobvergaben oder Bauverfahren. Laut Transparency International liegt Nordmazedonien mit 42 von 100 Punkten auf Platz 76 von 180 erfassten Ländern. Nach Gesetzesänderungen im Herbst 2023 wurden in Nordmazedonien rund 200 Korruptionsverfahren eingestellt. Auch in Serbien, mit nur 36 Punkten noch schlechter platziert, fehlt es an wirksamer Strafverfolgung und Kontrolle.
Das ausgehöhlte Gemeinwesen ist Dauerthema an der Universität in Skopje. «Die Infrastruktur in Mazedonien kann schlicht als kaum vorhanden beschrieben werden», klagt das Plenum, «vom öffentlichen Nahverkehr über das Gesundheitswesen und die Bildung bis hin zum Mangel an kulturellen Einrichtungen oder der mangelnden Pflege von Nationalparks.» Laut dem Dekan der Fakultät für Bauingenieurwesen an der Universität von Skopje, Goran Markovski, werden «siebzig bis achtzig Prozent der Ausgehlokale in Nordmazedonien» nicht vorschriftsgemäss betrieben.
Die grassierende Korruption führen die Student:innen nicht nur auf das kapitalistische Wirtschaftssystem an sich zurück. Sie sehen nordmazedonische Politiker:innen in der Verantwortung – aber auch die Europäische Union, die sich nicht für die Zustände in dem Land interessiert, das immerhin Beitrittskandidat ist. Der Westen sei, so sagen die Plenums-Vertreter:innen, an ihnen als «billige Arbeitskräfte und an Rohstoffen der Region interessiert», siehe Rio Tinto in Serbien. Zugleich wolle er sie davon überzeugen, dass der Weg in die EU der einzig gangbare nach vorn sei. «Wir wurden jahrzehntelang in der Schwebe gehalten. Und wofür genau?» Aus den Worten der jungen Generation, in Nordmazedonien wie in Serbien, spricht spürbare Enttäuschung.
Auch in Serbien, ebenfalls EU-Beitrittskandidat, fühlen sich die Zivilbevölkerung und viele Studierende von der europäischen Öffentlichkeit und der EU im Stich gelassen – zumal von diesen weiterhin kaum Kritik an Präsident Vučić und seiner autoritären Politik kommt. Deshalb tragen die serbischen Student:innen ihre Anliegen jetzt direkt an die EU heran: Eine Fahrradkolonne legte über 1300 Kilometer zurück, um vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg Gerechtigkeit einzufordern.