Proteste in Serbien: Der nackte Kaiser herrscht weiter
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić opfert seinen Premierminister Miloš Vučević, um den Studierendenprotesten den Wind aus den Segeln zu nehmen – und bleibt bis jetzt erfolglos.

Drei Monate nach Beginn der Studierendenproteste in Serbien erklärte Premierminister Miloš Vučević am Dienstagvormittag seinen Rücktritt. Die Demonstrationen und Besetzungen begannen nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November, der fünfzehn Menschen das Leben kostete.
Zu den Forderungen der Studierenden in Novi Sad gehörte auch, Vučević zur Verantwortung zu ziehen. Allerdings nicht aufgrund seiner Rolle als Ministerpräsident Serbiens, sondern weil er bis 2022 und somit während der Bauarbeiten am Bahnhof Bürgermeister von Novi Sad war. Der Verdacht: Fünfzehn Menschen sind tot, weil ein korruptes Regime sich Geld in die eigenen Taschen steckte statt in die Sicherheit des Bauwerks.
Sehr selbstkritisch gab sich der Fünfzigjährige bei der Pressekonferenz zu seinem Rücktritt nicht. Er zählte seine Erfolge auf, beschuldigte die Opposition, das Unglück von Novi Sad zu instrumentalisieren, und verbreitete die Verschwörungserzählung, die Proteste würden aus dem Ausland orchestriert, um Serbien zu schaden.
Als Grund für seinen Rücktritt gab er einen Angriff auf Studierende in der Nacht auf Dienstag an. Zwei mit Baseballschlägern bewaffnete junge Männer waren gemäss Augenzeugen aus der Parteizentrale der regierenden serbischen Fortschrittspartei SNS in Novi Sad gestürmt und hatten Studierende angegriffen, die vor dem Gebäude Aufkleber auf einen Mülleimer klebten. Dabei wurden mehrere Personen verletzt, eine junge Frau musste mit gebrochenem Kiefer ins Spital gebracht werden. Schon in der Vergangenheit wurden bei ähnlichen Fällen Schläger als Mitglieder der SNS identifiziert – jener Partei, deren offizieller Vorsitzender Vučević noch ist. Auch der amtierende Bürgermeister von Novi Sad, Milan Đurić, ist zurückgetreten.
Politisches Bauernopfer
Dass Vučević die Angriffe auf Studierende als Rücktrittsgrund nennt, soll den Eindruck vermitteln, dass die Proteste ihr Ziel erreicht haben und die Studierenden nach Hause gehen können. Damit macht Präsident Aleksandar Vučić – der eigentliche Machthaber – seinen Ministerpräsidenten Vučević zum Bauernopfer und hofft, den Protesten so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Funktioniert hat das erst einmal nicht – am Dienstagabend kam es erneut zu grossen Demonstrationen gegen die Regierung.
Die Proteste haben sich in den vergangenen drei Monaten ausgeweitet. Grosse Teile der Bevölkerung und ganze Berufsverbände erklärten ihre Solidarität mit den Studierenden, vergangenen Freitag folgten viele einem Aufruf zum Generalstreik. In der Nacht auf Dienstag besetzten Demonstrierende mithilfe von Bäuer:innen und deren Traktoren für 24 Stunden den zentralen Verkehrsknotenpunkt Autokomanda in Belgrad. Gemäss einer Umfrage des Instituts CRTA unterstützen 61 Prozent der Serb:innen den Protest.
Zur Solidarisierung mit den Studierenden trägt auch die gegen sie verübte Gewalt bei. Neben den Angriffen durch Parteifunktionäre kam es wiederholt zu Vorfällen, bei denen Autos gezielt in Ansammlungen von demonstrierenden Student:innen gesteuert wurden. Grosse Aufmerksamkeit erregte der Fall der zwanzigjährigen Jurastudentin Sonja Ponjavić, die am 16. Januar mitten in Belgrad von einem Auto erfasst und mehrere Meter mitgeschleift wurde. Ein Video der Tat verbreitete sich rasant im Netz. Ponjavićs Zustand ist wieder stabil, gegen den Fahrer wird wegen versuchten Mordes ermittelt. Der Täter könnte sich durch eine Aussage von Präsident Vučić ermutigt gefühlt haben: Nach einem ähnlichen Vorfall am 1. Dezember in Požarevac hatte dieser öffentlich erklärt, der Fahrer solle nicht festgenommen werden, da die Demonstrierenden im Weg gestanden seien und er doch nur habe weiterfahren wollen.
Eine klare Alternative fehlt
Nach diesem Vorfall solidarisierte sich sogar der serbische Tennisstar und Nationalheld Novak Đoković mit den Studierenden und richtete Genesungswünsche an die angefahrene Ponjavić: «Meine Unterstützung gilt immer den jungen Menschen, den Studenten und allen, denen die Zukunft unseres Landes gehört.»
Die seit 2016 wiederkehrenden Proteste des progressiven Lagers konnte Vučić aussitzen, weil dieses nur eine Minderheit vertritt. Wenn die Kritik aber gleichzeitig von links, rechts, von Đoković ebenso wie von den Bäuer:innen kommt, wächst der Druck erheblich. Das System ist demaskiert, der Kaiser nackt, die Macht liegt auf der Strasse. Aber findet sich auch jemand, der sie aufhebt? Vučić kündigte am Dienstagabend an, sich zehn Tage Zeit zu nehmen, um zu entscheiden, ob es Neuwahlen geben wird – möglich wäre ein Termin im April.
Die Student:innen schliessen sich bewusst mit keiner der zahlreichen kleinen Oppositionsparteien zusammen, auch wenn regierungsnahe Medien immer wieder das Gegenteil behaupten, um sie zu diskreditieren. Nach zwölf Jahren autokratischer SNS-Herrschaft ist die Opposition gespalten und marginalisiert. Es ist unwahrscheinlich, dass bei einer möglichen Wahl im April eine andere Partei als die SNS den Sieg davonträgt.
Dass die Proteste so breit abgestützt sind, ist ihre grösste Stärke – zugleich aber auch eine Schwäche. Denn es fehlt eine klare Alternative zum System Vučić, das jene Missstände hervorgebracht hat, die die Studierenden kritisieren. Es besteht die Gefahr, dass der Autokrat Aleksandar Vučić einfach eine neue Marionette an die Spitze der Regierung setzt und danach alles weitergeht wie bisher.