Von oben herab: Trautes Heim
Stefan Gärtner über Gary Linekers Freunde
Ich musste nicht lange suchen, bis ich eine Schweizer Stimme zum Brexit fand, denn meine Morgenzeitung zitierte unter dem Rubrum «Blick in die Presse» die «Schweiz am Sonntag»: «Liegt London nicht mehr in Europa? Die Gleichsetzung der EU mit Europa ist Propaganda, der zumindest die Schweizer nicht verfallen sollten. (…) Denn Europa steht für Vielfalt. Die EU aber steht zunehmend für Vereinheitlichung und Entmündigung.»
Wer gegen diesen Trend zu Vereinheitlichung und Entmündigung ist – von dem ich allerdings glaube, er geht viel eher von unserer Unterhaltungsindustrie aus als von dem sagenumwobenen «Brüssel» –, muss allerdings mit Leuten wie Christoph Blocher oder Nigel Farage stimmen, den die englische Fussballlegende Gary Lineker nach dem Referendum ein «Arschloch» genannt hat. Will man das?
Eine Mehrheit will das, wobei sich Britannien auch hier wieder humorig hervortut, gibt es doch, nachdem die Brexit-Bewegung fürs Erste erfolgreich gewesen ist, eine neue namens «Bregret», in der sich Brexit-Freunde sammeln, denen scheints nicht klar gewesen ist, was (und wen) sie da eigentlich wählen und die ihre eigene Dummheit nun bedauern; so wie die jungen Leute sie bedauern, die das deutsche Fernsehen immer wieder (und vermutlich ohne Mühe) vor die Kamera kriegt und die dann sagen: «Ich war gar nicht abstimmen, ich dachte, wir schaffen es auch so! Wär ich mal gegangen!», darunter auch ein junger Mann mit indischem oder pakistanischem Hintergrund, und ich sehe in meiner Fantasie einen jungen Juden, der im März 1933 vor einer britischen Kamera steht und sagt: «Ich war nicht wählen, ich dachte, Hitler schaffts eh nicht.»
Auch die Vorkämpfer des Brexit, das Arschloch Farage und Boris Johnson, den seine Biografin «die rücksichtsloseste und ehrgeizigste Person, die ich je getroffen habe», nennt, sind in der Versenkung verschwunden, als wollten sie sich lieber nicht in die Pflicht nehmen lassen für den Unsinn, den sie da angerichtet haben; und in Cornwall, das knüppeldick von EU-Geld profitiert und trotzdem für den Brexit war, wollen sie das Geld, das jetzt fehlen wird, von der britischen Regierung haben, und da habe ich wiederum lachen müssen, lachen über das, was sich da von Brüssel entmündigt sieht und aber die Tassen doch tatsächlich nicht im Schrank hat.
Die «Schweiz am Sonntag» ist jedenfalls dafür, wenn die Leute vor lauter Negerskepsis für ihre eigene Pleite stimmen, und der «Tages-Anzeiger» meldete erste Schweizer Pläne, die Efta um Grossbritannien zu erweitern, unter der Zeile «Der Traum von der Achse Bern–London». Die dann gemeinsam die Ausländer vor der Tür halten kann, ohne dass die schrumpfende EU sich zu widersprechen traut, so in etwa die Strategie Christoph Blochers, dem womöglich zweitbesten Freund Gary Linekers: «Die EU fürchte sich davor, dass die Schweiz die Personenfreizügigkeit kündige. Das wisse er aus EU-Kreisen, die er noch aus seiner Zeit als Bundesrat kenne. ‹Es käme zu einer Kettenreaktion in allen Ländern. Auch beim Brexit besteht die Hauptangst, dass es in anderen Ländern losgeht. Wäre ich die EU, würde ich mich sehr schnell mit der Schweiz einigen›» («Tages-Anzeiger»).
Und ich bin, ein schöner Nebeneffekt, auf einmal wieder sechzehn und höre Konstantin Wecker: «Sonntags sitzt man beim Kaffee / voller Hass am Kanapee, / treu vereint und doch allein, / stilles Glück und trautes Heim.»
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.