Energiepolitik in Norwegen: Rentiere fressen kein Geld

Nr. 11 –

Ein Windpark verstösst gegen Indigenenrechte, darf aber stehen bleiben. Doch die Aktivist:innen, die dagegen protestierten, stehen nun vor Gericht. Das hat auch mit der Zürcher Gesellschaft Energy Infrastructure Partners und der Berner BKW zu tun.

Es ist nachts um halb zwei, als schwarz uniformierte Polizist:innen anfangen, das Gebäude des Öl- und Energiedepartements in Oslo zu räumen. Während vier Tagen haben bunt gekleidete Aktivist:innen die Eingangshalle blockiert; sie haben Banner aufgehängt und ihren Protest live gestreamt. Nun aber, mitten in der Nacht auf den 27. Februar 2023, werden sie weggetragen: zwanzig junge, teils minderjährige samische Indigene sowie Vertreter:innen der NGO Natur og Ungdom (Natur und Jugend).

Während die Polizeibeamt:innen die Aktivist:innen packen, sie aus dem Gebäude tragen und schleifen, fangen diese an zu singen. Genauer gesagt: Sie joiken. Der Joik ist ein kehliger, traditionell samischer Gesang. Sie joiken ein Lied namens «Kråka», übersetzt «Krähe», die in der samischen Tradition die Obrigkeit symbolisiert. «Eine Stichelei gegen die Polizei», wird eine Aktivistin später gegenüber der norwegischen Zeitung «Verdens Gang» sagen: Beim Joiken denke sie daran, wie sich dunkle Krähen in Polizeibeamte verwandelten, die kämen, um sie zu holen.

Vierzig Prozent schweizerisch

Was vor einem Jahr im Öl- und Energiedepartement durch den polizeilichen Eingriff beendet wurde, findet in dieser Woche seine Fortsetzung. Zwanzig junge Sámi und Umweltaktivist:innen müssen sich vor dem Osloer Amtsgericht verantworten. Sie sind angeklagt gemäss Paragraf 5 des norwegischen Polizeigesetzes: Ihnen wird vorgeworfen, der polizeilichen Aufforderung, sich vom Gelände zu entfernen, keine Folge geleistet zu haben.

«Das ist absurd», kommentierte Ella Marie Hætta Isaksen die Anklage in einem öffentlichen Statement: «Meiner Meinung nach sollten Ministerpräsident Jonas Gahr Støre und Energieminister Terje Aasland bestraft werden.» Hætta Isaksen gehört zu den Beschuldigten, die diese Woche vor Gericht stehen. Sie ist das Gesicht dieser Umweltproteste: 25-jährig, Sängerin, Schauspielerin, Aktivistin – und derzeit die wahrscheinlich bekannteste Sámi Norwegens. Nachdem sie 2018 die Castingshow «Stjernekamp» im norwegischen Fernsehen gewonnen hatte, bespielte sie mit ihrer Elektro-Joik-Band Isák die grossen Bühnen des Landes. Heute ist sie Solokünstlerin mit 34 000 Follower:innen auf Instagram. «Es ist der Staat, der für die Situation auf Fosen verantwortlich ist», liess Hætta Isaksen verlauten.

Die Situation auf Fosen: Als «Fosen-saken», die «Fosen-Sache», ist sie zu einem festen Begriff in der norwegischen Politik geworden. Fosen ist eine Halbinsel, etwas nördlich der mittelgrossen Stadt Trondheim gelegen und etwas südlich des 64. Breitengrads. Mit 3300 Quadratkilometern Fläche ist sie ein bisschen kleiner als Mallorca. Wenige Bewohner:innen, viel Wind. 2016 hat die Energiegesellschaft Fosen Vind DA hier begonnen, den damals grössten landbasierten Windpark Europas zu errichten. 2020 war die Anlage mit 277 Windrädern und über 200 Kilometern Zugangsstrassen fertig gebaut. Ihre geplante Gesamtleistung beträgt 1057 Megawatt. Das ist vergleichbar mit der eines Atomkraftwerks.

Ganze vierzig Prozent dieses Milliardenprojekts gehören Schweizer Energiefirmen. Die Investmentgesellschaft Energy Infrastructure Partners (EIP) aus Zürich – einst von der Credit Suisse mitgegründet und gemäss Eigenangaben ein «bevorzugter Partner von führenden Industrieunternehmen rund um die Welt» – hält indirekt, über das Investorenkonsortium Nordic Wind Power DA, einen Anteil von 28,8 Prozent am Windpark. Bei der Berner Energiegesellschaft BKW sind es 11,2 Prozent. Beide Firmen sind im Verwaltungsrat von Fosen Vind DA vertreten; über Zahlen zu einzelnen Geschäftsfeldern geben sie keine Auskunft. Die BKW sagt auf Anfrage, ihr Ziel sei es, «einen Beitrag zur Energiewende zu leisten, wobei stets die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden».

Ein Sieg vor Gericht

Erwiesenermassen aber nicht die Interessen der samischen Rentierhirt:innen. Schon seit Generationen verbringen deren Herden die Wintermonate auf der Fosen-Halbinsel. Die Rentierzucht ist traditionelles Sámi-Handwerk; die Hirt:innenfamilien ziehen mit ihren halbwilden Tieren jeweils von Sommer- auf Winterweiden und zurück. Einst mit Zelten und Schlitten, mittlerweile mit Schneemobilen und Drohnen.

Obwohl heute lediglich etwa zehn Prozent der Sámi in der Rentierwirtschaft tätig sind, ist diese noch immer von identitätsstiftender Bedeutung. Die indigene Geschichte ist in Nordeuropa eine tragische: Über Jahrzehnte und Jahrhunderte wurden die Sámi von den Mehrheitsgesellschaften Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands diskriminiert – auf unterschiedliche Weise, aber überall systematisch. In Norwegen, wo der grösste Teil der Sámi lebt, wurden deren Kinder in Internate gesteckt, ihre Sprache verboten, die Rechte zur Landnutzung eingeschränkt. Einzig in der halbnomadischen Rentierwirtschaft konnte die samische Kultur überleben.

Auf der Fosen-Halbinsel musste die indigene Bevölkerung bald feststellen: Die Turbinen und das verbaute Gelände vertreiben ihre scheuen Rentiere. So zogen sie vor Gericht. Als «grüne Kolonialisierung» – also als Unterdrückung im Namen der Energiewende – bezeichneten sie das Windparkprojekt.

Protest von Sámi 2018 vor der BKW-Zentrale
Mit Rentier in Bern: Protest von Sámi 2018 vor der BKW-Zentrale. Foto: Franziska Rothenbühler

Die Sámi sind es gewohnt, vor Gericht für ihre Rechte kämpfen zu müssen. Was für sie hingegen lange ungewohnt war, ist das Gewinnen. Bis im Oktober 2021 der Oberste Gerichtshof Norwegens zum Schluss kam, dass die Lizenz für den Bau des Windparks nicht hätte vergeben werden dürfen: Gemäss Artikel 27 des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte darf Angehörigen von «ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten» unter anderem das Recht nicht vorenthalten werden, «ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen». Das Fazit: Die Windräder drehen illegal.

Es war ein grosser Sieg der Sámi – gegen grüne Kolonialisierung, gegen die Verletzung von Menschenrechten. Wie aber sollte es weitergehen? Das Gericht äusserte sich nicht dazu, was mit den Windrädern nun passieren sollte. Für die BKW ist jedenfalls klar, dass ein Abriss der Windräder «nicht Gegenstand der eingereichten Klage» gewesen sei, wie ein Mediensprecher mitteilt; der Oberste Gerichtshof habe sich «nur mit der Frage der Entschädigung befasst». Während die EIP gar nicht erst auf die Anfrage der WOZ reagiert, verweist die BKW unter anderem darauf, dass man seit 2021 Teil des United Nations Global Compact sei, eines Versprechens zwischen Uno und Unternehmen für «eine gerechtere Ausgestaltung der Globalisierung».

In Norwegen wurde es nach dem Gerichtsentscheid still um den Windpark. Die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jonas Gahr Støre, der sein Amt nur drei Tage nach dem historischen Urteil antrat, liess die Windräder weiterdrehen – und die Konfliktparteien im Hintergrund verhandeln.

Also entschlossen sich Ella Marie Hætta Isaksen und ihre Mitstreiter:innen dazu, das Öl- und Energiedepartement in Oslo zu besetzen. Ende Februar 2023 waren genau 500 Tage seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs vergangen; «500 Tage Menschenrechtsverletzung» stand auf einem der Banner, das die Aktivist:innen zum Departement trugen, «Der Staat bricht das Gesetz» auf einem anderen, dazu viele samische Flaggen. Im Eingangsbereich angekommen, drehten die Demonstrierenden ihre traditionelle Gákti, ein buntes Kleid, von innen nach aussen. Ein samisches Symbol des Protests. Und während sie im Gebäudeinnern ihre mehrtägige Sitzblockade einrichteten, gesellten sich draussen vor den hohen Glasfassaden immer mehr Menschen zu den Protestierenden hinzu. Auch Greta Thunberg kam.

Fosen bleibt bebaut

Ein Jahr später ist «Fosen-saken» erneut zur Aktualität geworden. Zum einen, weil die Sámi auf Fosen mit den Windkraftunternehmen eine Einigung erzielt haben: Der Staat Norwegen wird ihnen zusätzliches Weideland zur Verfügung stellen, und die Rentierhirt:innen erhalten das Vetorecht über eine allfällige Verlängerung der Konzession in rund zwanzig Jahren. Bis dahin erhalten die Sámi eine Entschädigung von sieben Millionen Kronen pro Jahr, das entspricht mehr als einer halben Million Schweizer Franken.

Das bedeutet gleichzeitig: Die Fosen-Halbinsel bleibt bebaut. Eine finanzielle Entschädigung ist zwar nett, aber Rentiere fressen kein Geld. Für die Aktivist:innen ist die Menschenrechtsverletzung damit nicht behoben. «Das ist kein Sieg», sagt Ella Marie Hætta Isaksen gegenüber der WOZ. «Obwohl die Rentierzüchter:innen vor dem Obersten Gerichtshof gewonnen hatten, mussten sie mit den Windkraftunternehmen verhandeln.» Das zeuge von einem Fehler im System, sagt die Aktivistin: «Wird der nicht korrigiert, wird es wieder zu Menschenrechtsverletzungen gegen die Sámi kommen.» Hætta Isaksen hat immer den Rückbau der Windräder gefordert.

Der andere Teil der Aktualität steht diese Woche an. Rund ein Jahr nach ihrer Blockadeaktion müssen sich zwanzig der Aktivist:innen dafür vor Gericht verteidigen. Der Prozess wird per Livestream übertragen, an einem Abend gibt es ein Konzert, an dem auch Ella Marie Hætta Isaksen auftritt. An einem anderen treffen sich die Angeklagten in Oslo mit Vertreter:innen der Uno. Auf Instagram haben sie Fotos von sich gepostet mit der Überschrift «tiltalt» (angeklagt) – und dann Fotos von Ministerpräsident Støre und Energieminister Aasland, bei denen steht: «ikke tiltalt» (nicht angeklagt). Die beiden sollten an ihrer Stelle vor Gericht stehen, weil sie über zwei Jahre lang das Urteil des Obersten Gerichtshofs ignorierten, finden die Aktivist:innen.

Sie sei nervös, sagte Hætta Isaksen vor dem Prozessauftakt. Sie, die mit öffentlichen Auftritten ihr Geld verdient. Gleichzeitig freue sie sich auch darauf: Gemeinsam mit ihren Mitstreiter:innen wolle sie aus dieser Prozess- eine Protestwoche machen.