Umbruch in Norwegen: Auf 85 zählen
Den norwegischen Wahlkampf bestimmten soziale Fragen und die Klimaerwärmung. Nun kommt es zu einem Machtwechsel: Die Sozialdemokrat:innen übernehmen die Regierung, Linksaussen-Parteien gewinnen an Einfluss.
Acht Jahre. Nie zuvor war es einer konservativen Regierung in Norwegen gelungen, so lange an der Macht zu bleiben. Doch nun ist die Gnadenfrist von Ministerpräsidentin Erna Solberg abgelaufen. Am Dienstag dieser Woche hat «Jern-Erna», die «eiserne Erna», wie sie im Volksmund in Anlehnung an Margaret Thatcher genannt wird, ihren Rücktritt eingereicht. Mitte September hatte sie bei den Parlamentswahlen mit ihrer Partei Höyre (Rechte) starke Verluste einstecken müssen. Von den 169 Sitzen im Storting, wie das Parlament in Norwegen heisst, gingen insgesamt 100 an linke und mittige Parteien. Neuer Ministerpräsident wird Jonas Gahr Störe: Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet (AP) wird gemeinsam mit der Zentrumspartei eine Minderheitsregierung bilden.
Obwohl die AP die letzten acht Jahre die stärkste Oppositionspartei war, konnte sie bei den Wahlen allerdings kein Kapital aus ihrer Rolle schlagen. Sie verlor einen Prozentpunkt und ist – mit Ausnahme der für die Partei katastrophalen Wahlen von 2001 – mit 26 Prozent so schwach wie seit 1912 nicht mehr. Trotz der Machtübernahme ist die Situation des neuen Ministerpräsidenten Störe deshalb nicht ganz einfach. Zulegen konnte bei den Parlamentswahlen die Zentrumspartei in der Mitte. Und Erfolge gab es vor allem Linksaussen: Die sozialistische Linkspartei, die Sosialistisk Venstreparti (SV), kommt neu auf rund acht Prozent. Erstmalig die Vierprozenthürde knacken konnte zudem die linke Partei Rödt (Rot).
Die grossen Verlierer:innen waren die konservative Höyre, die fast fünf Prozent einbüsste, sowie ihre ehemalige Juniorpartnerin, die rechtspopulistische Fortschrittspartei FRP. Diese war noch im Januar 2020 aus Solbergs Regierung ausgeschieden, wohl auch, um nicht in Verbindung mit der unbeliebter werdenden Regierungspartei an Unterstützung einzubüssen. Der Plan ging nicht auf: Die FRP verlor ebenfalls rund vier Prozent. Das bisherige Erfolgsrezept der Partei – Stimmungsmache gegen Migrant:innen – wollte nicht verfangen. Allgemein hat das Migrationsthema bei diesen Wahlen kaum bewegt.
Glaubwürdigkeit gewinnt
«Das ist die Antwort der Wähler:innen auf acht Jahre rechter Regierung», erklärt Audun Herning, der Zentralsekretär der Linkspartei SV, im Gespräch das Wahlresultat. Die Menschen in Norwegen hätten in dieser Zeit erlebt, wie die Ungleichheit zunahm, wie Steuergeschenke verteilt wurden, wie die Regierung die nötigen Massnahmen für den Aufbau einer klimafreundlichen Wirtschaft verschleppte. Dass die SV profitieren konnte, hatte allerdings auch mit einer Umorientierung zu tun. Sie hatte von 2005 bis 2013 gemeinsam mit der Arbeiter- und der Zentrumspartei die Regierung gestellt. Für ihre staatstragende Rolle war sie 2013 von den Wähler:innen abgestraft worden und schaffte es damals nur knapp wieder ins Parlament.
Für Rödt ist das Ergebnis unbestritten ein Achtungserfolg. Bei den letzten Wahlen hatte der Parteivorsitzende, Björnar Moxnes, ein einziges Direktmandat in Oslo gewinnen können. Nun stellt die Kleinpartei gleich acht Abgeordnete. Rödt hat eine spürbare kommunistische Vergangenheit. Marx und der Kommunismus stehen noch im Programm. Ihren Ursprung fand die junge Partei ähnlich dem belgischen Parti du Travail in der maoistischen Linken, die in Norwegen in den Siebzigern nicht nur besonders stark, sondern auch sehr radikal war. Mit diesen Wahlen ist Rödt – mit ihren zahlreichen jungen Aktivist:innen – nun endgültig in allen Landesteilen angekommen.
So auch in Arendal im Süden des Landes, der Heimat des Rödt-Aktivisten Fredrik Berntsen. Für ihn ist keine Frage, woher der Erfolg stammt: «Die Führung der AP hat eine schlechte Falle gemacht. Andere linke Parteien konnten die Umwelt- und Sozialthemen, die die Wahl dominierten, viel glaubwürdiger vertreten.» Die Forderung der AP beispielsweise, dass die Ölförderung zugunsten des Ausbaus des Wohlfahrtsstaats forciert werden solle, wurde für die Sozialdemokrat:innen zur Hypothek. Zwar erkennt Gahr Störes Partei öffentlich an, dass die Ära des Öls angesichts des Klimawandels zu Ende geht; generell gegen die Erschliessung neuer Ölfelder will sich die norwegische Sozialdemokratie aber nicht stellen. «Dass Rödt gewinnen konnte, hat aber auch damit zu tun, dass mit ihrem Vorsitzenden Moxnes ein charismatischer und versierter Redner die Partei im Storting vertrat», führt Berntsen weiter aus.
Kahlschlag beim Service public
Neben der sozialen Frage und der Klimaerwärmung gab ein zusätzliches Thema den Takt im Wahlkampf vor: die Zentralisierung der öffentlichen Dienste, die die rechte Regierung in den letzten Jahren vorangetrieben hat. Vor allem die SV profitierte vom Kahlschlag der «eisernen Erna» beim Service public in ländlichen Regionen. Trotz ihres Wahlerfolgs hat sie nun aber ein Dreierbündnis in der Regierung mit den Sozialdemokrat:innen und der Zentrumspartei ausgeschlagen.
Die SV scheint aus dem Debakel von 2013 ihre Lehren gezogen zu haben. Parteisekretär Herning hat an den gescheiterten Vorverhandlungen mit der AP teilgenommen und sagt: «Wir haben das Angebot angeschaut, das auf dem Tisch lag. Unsere Wahlversprechen, also ein angemessenes Tempo bei der Bekämpfung von sozialer Ungleichheit und bei der Bekämpfung des Klimawandels, können wir damit nicht erreichen.»
Zusammen mit Rödt und der grünen Partei MDG kann die SV im Parlament einen linken Block bilden. Die Sozialdemokrat:innen würden auf ihn angewiesen sein, um eine Mehrheit zu erreichen, führt Herning aus. In der dänischen Politserie «Borgen» stehe die Redensart «auf 90 zählen» für die Beschaffung einer Mehrheit im Parlament. Im Storting reichten dafür 85 Abgeordnete. «Das Problem der AP: Sie braucht uns, um auf 85 zählen zu können.» Eine sozialdemokratische Minderheitsregierung wird also der Linken Zugeständnisse machen müssen – oder sie macht sich mit der abgestraften Rechten gemein, um sich an der Macht zu halten.