Stromgesetz: Jedes Tal ein Potenzial

Nr. 21 –

In Norwegen wehren sich indigene Sámi gegen Windturbinen, die ihre Rentiere stören. Obwohl die Windräder erneuerbaren Strom liefern, solidarisieren sich Klimaaktivist:innen (siehe WOZ Nr. 11/24). Wäre das auch so, wenn es nicht um Sámi ginge? Sondern zum Beispiel um Landwirt:innen, die wegen Windkraft Land verlieren?

Wahrscheinlich nicht. Indigene Aktivist:innen haben in der Klimabewegung eine besondere Stellung. Das kann problematisch sein, in Überhöhung kippen. Berechtigt ist es trotzdem. Die Verbrechen an indigenen Gesellschaften hatten und haben sehr direkt mit dem kapitalistischen Ressourcenhunger zu tun. Indigene Lebensweisen sind heute unter Druck wie noch nie – und bekommen gerade deshalb enorme Bedeutung. Weil sie daran erinnern, dass es andere Wege gäbe, mit der Welt umzugehen, als sie als riesiges Warenlager zu betrachten, das den Menschen gratis zur Verfügung steht. Viele indigene Gesellschaften sehen Menschen als kleinen Teil eines riesigen Beziehungsgeflechts anderer Lebewesen – sie haben die ökologische Forschung vorweggenommen.

Beim Bau neuer Energieanlagen, in Norwegen wie in der Schweiz, stört solche Demut allerdings. Da wird ein kalter, technischer Blick auf die Welt gefordert: Diesen Fluss stauen wir, aus jener Alp machen wir eine Solarfabrik. Wenn sich Anwohner:innen gegen Kraftwerksprojekte wehren, wird das oft als «Not in my backyard»-Denken, kurz «Nimby», kritisiert. Der Vorwurf ist verständlich und greift doch zu kurz. Denn die ganze Konsumgesellschaft folgt dem «Nimby»-Prinzip: Viele Güter und Dienstleistungen, die wir heute für normal halten, hinterlassen irgendwo auf der Welt Elend und Zerstörung. Zudem wertet der pauschale Vorwurf jede Bindung ab, die Menschen zu «ihren» Landschaften und deren nichtmenschlichen Bewohner:innen haben. Es gilt, Gefühle zu unterdrücken, das ist jetzt nötig für die Energiewende. Dieser kalte Blick auf die Landschaft, der in einem Bergtal nur das Potenzial für so und so viele Megawatt sieht, ist für ein ökologisches Denken verheerend.

Neue Wasser-, Wind- oder Solarkraftwerke sind nicht per se gut für die Umwelt. «Grün» werden sie erst, wenn ihr Strom Energie aus schädlicheren Quellen ersetzt. Und davon sind wir weit entfernt: Weder Atomausstieg noch Dekarbonisierung sind verbindlich beschlossen. Für Letztere wäre das – katastrophal ungenügende – CO₂-Gesetz zuständig. Solange eine ökologische Gesamtstrategie fehlt, ist es wichtig, sehr genau hinzuschauen: Wo ist Zerstörung im Namen des Klimaschutzes gerechtfertigt? Und wo nicht?

Das Stromgesetz stellt Umweltschützer:innen vor ein Dilemma: Wer Ja zu den geplanten Effizienz- und Sparzielen und zum Solarausbau sagt, befürwortet auch den unökologischen Ausbau der Wasserkraft und eine Schwächung des Umweltrechts (siehe WOZ Nr. 17/24).

Ein Nein hilft allerdings nicht weiter. Die SVP mobilisiert als einzige Partei gegen das Stromgesetz. Wie so oft wird eine Abstimmung über eine komplexe Vorlage zu einem simplen Machtkampf: Ein Nein würde als Zustimmung zur SVP-Politik und als Ablehnung der Energiewende interpretiert. Ein linkes, kritisches Nein wird in dieser Konstellation unsichtbar. So war es beim CO₂-Gesetz, so war es schon 1992 bei der EWR-Abstimmung.

Dazu kommt: Ein Nein schützt kein einziges Bergtal. Atom- und Wasserkraft waren lange das Einzige, was die Schweizer Strombranche interessierte. Die SVP tickt heute noch so. Gewinnt sie diese Abstimmung, wird sie nicht nur den Bau von AKWs, sondern auch den neuer Stauseen vorantreiben. Und die rechte Parlamentsmehrheit wird Wege finden, den Natur- und Landschaftsschutz noch mehr zu schwächen.

Eine widersprüchliche Vorlage verlangt nach einer eigenwilligen Strategie: Ja stimmen – für die Energiewende, gegen die SVP. Und sich dann weiterhin für intakte Bergtäler einsetzen. Auch zusammen mit Umweltaktivist:innen, die Nein gestimmt haben. Die Allianz jener, die den kalten Blick auf die Welt verweigern, ist zu wichtig, um sich über dieser Abstimmung zu zerstreiten.