Essay: Die falsche Gleichheit
Alle bekommen, was sie verdienen? Das Prinzip der Eigenverantwortung stützt seit jeher die Ungleichheit. So können im Namen des Liberalismus auch Zwang und Gewalt beliebig aufgedreht werden – bis zum Faschismus.

Als Kind und Heranwachsendem fielen mir Klassenunterschiede nie auf. Sie waren in meinem Fall auch komplizierter gelagert als in einem Oben und Unten. Dank meiner Bildungsbiografie kann ich sehr gut in einer liberalen Gesellschaft mitmischen. Ich konnte als Jugendlicher Hermann Hesse lesen, Sturm und Drang fühlen und mit Tocotronic eingehegt rebellieren, ich verstehe Hochkultur und Feuilleton, kenne mich in Diskursen aus und weiss, was gemeint ist, wenn vor der Spaltung der Gesellschaft gewarnt wird. Und angesichts von AfD, Trump und autoritärer Bedrohung muss ich als Bildungsbürger zum Besitzstandswahrer jener demokratischen Ordnung werden, zu der ich doch nur der Idee nach als Subjekt dazugehöre. Allein, mir fehlt die ökonomische Grundlage, um wirklich Bürger zu sein. Bei mir als ostdeutschem Millennial rührt das daher, dass es in DDR-Familien eben nichts an Besitz zu erben gibt.
Ich erinnere mich, bei einem Schulfreund zu Hause immer willkommen gewesen zu sein, in einem Elternhaus mit Herrenzimmer voller Bücher und einem Tisch für Zigarren, einem Nintendo 64 und einer Xbox mit vier Controllern, einem Pool und einer Haushälterin. Mit den Eltern, die mich sogar in den Urlaub mitnahmen, führten wir manchmal abends Gespräche. Von der westdeutschen Unternehmerfamilie erfuhr ich, dass Ulrich Plenzdorf ein wichtiger Autor war, und bekam meine erste Ausgabe von «Die neuen Leiden des jungen W.» geschenkt. Auch später noch diskutierten wir manchmal darüber, dass der Kapitalismus natürlich schlimm sei, wer wünsche sich denn nicht, dass es den Armen besser gehe – überhaupt, wie verrückt doch diese Welt da draussen sein konnte. Es war, im besten bürgerlichen Sinn, eine Atmosphäre der Gleichheit.
Eines Tages, wir waren schon Erwachsene, die sich nur noch selten sahen, sagte mein guter Freund zu mir, dass es zwischen uns einen Unterschied gebe: «Du willst die Welt immer noch verändern, ich habe mich mit ihr abgefunden. Und deshalb komme ich in ihr auch zurecht.» Ich war empört, gekränkt und hielt dem lange Abwehr entgegen. Aber mittlerweile ist mir klar, dass dieser Unterschied tatsächlich entscheidend ist, genau genommen ging es die ganze Zeit darum: Gerade diese Gleichbehandlung im Bürgerhaus ermöglichte die Kehrseite, dass ich an allem, was mich von dieser Welt real trennte, selbst Schuld haben sollte.
Diese Erkenntnis hat eine recht banale Ebene. Immerhin ist die Idee, auf solche Weise seines Glückes eigener Schmied zu sein, offensichtlich ein bedeutender Teil der Geschichte, die sich die bürgerliche Gesellschaft von sich selbst erzählt. Es ist gewissermassen die organische Konsequenz aus der zentralen Stellung des Individuums als eines gesellschaftlichen Subjekts par excellence. Von der «Odyssee» über den bürgerlichen Roman bis zu den Autofiktionen der Gegenwart lautet die Botschaft: Der Einzelne kann in Heldenreise oder Kontemplation die Welt begreifen, sie dreht sich um ihn, und er steht in deren Mittelpunkt.
Diese hehren Erzählungen spiegeln die Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft: Wer nur genügend Opferbereitschaft zeigt, kann mit Fleiss alles erreichen. Die Wahrheit dieser bürgerlichen Individualität liegt darin, dass die Moderne eine Welt in Aussicht gestellt hat, in der wir tatsächlich selbstbestimmt frei und gleich leben könnten. Die Unwahrheit dieser Vision des freien Menschen ist, dass die Verhältnisse einfach nicht so sind. Die Erzählung, dass die Einzelnen zur Einrichtung ihrer Lebensumstände fähig sein sollen, ist Ideologie.
Jeder Missstand wird privatisiert
Ideologie, schrieb der französische Marxist Louis Althusser, sei immer Illusion und Allusion, Verblendung und Anspielung auf die Wahrheit. Man könne sie aber vor allem daran festmachen, was sich in ihrem Namen gesellschaftlich durchsetzen lasse. Den ideologischen Gehalt der Eigenverantwortung erkennt man schnell daran, wie sich damit so ziemlich jeder gesellschaftliche Missstand privatisieren liess: Ölkonzerne haben den Menschen die zerstörerischen Auswirkungen der fossilen Industrialisierung erfolgreich als «ökologischen Fussabdruck» in die Schuhe schieben können; Leistung wurde zu einem sozialchauvinistischen Leitbild umgewidmet, nach dem nur Förderung verdient, wer auch genug gefordert wird; und Massenarbeitslosigkeit in Überakkumulationskrisen sollten die Menschen selbst bewältigen, als Unternehmer ihrer selbst und Ich-AGs, bis man sie jetzt wieder mit Drohung und Angst zum Dienst für den «Wirtschaftsstandort» diszipliniert.
Längst ist man hierzulande wieder bei Arbeitszwang angekommen, sortiert Menschen nach deren Brauchbarkeit, will konsequent abschieben, wen man als illegal erklärt hat. All das ist kein Widerspruch zum liberalen Leitideal, wie man sich auf Demokratiedemos und im Grünen-Milieu gerne einredet, sondern nur vor dem Hintergrund der Annahme der Eigenverantwortung möglich, umgesetzt als Schuld und Strafe.
Meine erste Erfahrung nach dem Studium war, dass das reine Bildungsbürgertum – mit humanitärer Bildung, aber ohne Anteil am Besitz – gesellschaftlich überflüssig ist. Die gesamte Anlage einer akademischen Karriere besteht darin, dass sich die Prekarität bis zur einzig abgesicherten Position der Professur nur leisten kann, wer darunter auf sicherem Boden steht, mit Eigentumswohnungen und Erbe als «zweitem Standbein». Wer in diesem «Spiel» die meritokratische Hoffnung hegt, sich seinen Platz durch Leistung erarbeiten zu können, ohne schon einen Platz vorgesehen zu haben, landet beim Jobcenter.
Das Arbeitsamt ist der Ort, wo Idee und Wirklichkeit der Eigenverantwortung vollends auseinanderfallen. Schon die Architektur dieser Behörden erinnert an ein Gefängnis: Mehrebenenflure mit Sichtdurchbruch und Bürozellen, dysfunktionale Differenzierung verschiedener Antragsstationen, niemand versteht, was an welcher Stelle passiert. Wartebereich 14 im Abschnitt C, Zimmernummern im beliebigen vierstelligen Bereich, irgendwann öffnet sich irgendeine Tür, und der Name wird gerufen, die Akte durchgesehen, Daten, die man selbst in den Computer eingegeben hat, werden noch einmal abgefragt, Vereinbarungen zur Mitwirkung (Eigenverantwortung!) abgenötigt.
Klar, es gibt Rechte, die man in Anspruch nehmen kann, Schlupflöcher, wie sie der Philosoph Michel de Certeau in «Kunst des Handelns» unironisch als Klopapierklauen auf der Arbeit beschrieb. Aber der Preis, um in diesem System durchzukommen, ist eine Anpassung, bei der man, wie es bei Adorno so eindringlich heisst, notwendigerweise verliert, was man eigentlich erhalten wollte. Das Arbeitsamt ist nach eigener Auskunft die «Vermittlung» zwischen Job und Mensch, zwischen gesellschaftlicher Instanz und Individuum, Strukturzwang und Eigeninitiative. Das Medium dieser Vermittlung ist die Sanktion, deren Legitimation die Schuld.
Der universelle Bürger
Die gesellschaftliche Bedeutung der Eigenverantwortung wird auch daran deutlich, dass ihre direkteste Entsprechung die Arbeit ist, verbunden mit dem Prinzip der Leistung. Mein Freund erzählte mir nach der Schulzeit von seinen Drecksjobs, die er absolvierte. Zugegeben, ich war irritiert und habe mich immer gefragt, warum er so viel Wert darauf legte, «wirklich gearbeitet» zu haben, mit der offensichtlichen Perspektive auf Karriere im Familienunternehmen oder mindestens auf ein Erbe. Hätte er nicht den bürgerlichen Traum leben können, humanistische Bildung zum Selbstzweck oder alle möglichen Ziele ohne ökonomischen Existenzdruck verfolgen zu können? Oder war es der Vorgabe geschuldet, dass sich der bürgerliche Erbe immer auch abgrenzen und eine gewisse Verachtung für Reichtum demonstrieren musste? War das sein Aufstand gegen die Familie und seine Abhängigkeit als designierter Erbe?
In diesen Deutungen meines Freundes setzte ich jene Gleichheit fort, die ich am Küchentisch seines Elternhauses erlernt hatte. Ich widmete ihm heimlich «The First Time», jenen Song von U2 aus dem Soundtrack zum Film «The Million Dollar Hotel», Wim Wenders’ Ode an die gesellschaftlichen Misfits. Ein Song über Liebe, Freundschaft und den reichen Vater, der einem den goldenen Schlüssel vererbe, den man aber wegwerfen müsse. Ich selbst musste zum Tod meines Vaters das Erbe ausschlagen, weil es aus unabsehbar hohen Schulden bestand. Im Lied gemeint war eine Glaubensprüfung, in der der Zweifler die Richtigkeit des Bestehenden anerkennt. Amen. Der Übersprung zum Universellen, den ich selbst für meinen Freund herstellte, ermöglichte uns wieder eine Gleichheit. Seine Zweifel und Konflikte konnte ich nachvollziehen, da ich sie als mittelloser Bildungsbürger teilte. Wir waren uns gleich, indem wir auf eigenen Beinen stehen mussten, und damit jenen gleich, die wir uns intuitiv als die Gerechten vorstellten: Arbeiter:innen, Unterdrückte …
Aber die Gleichheit hat eine andere Funktion. Es ging nicht darum, dass wir, mein Freund und ich, uns in den Niederungen der Lohnarbeit glichen. Der eigentliche Effekt bestand im Beweis, dass ich ihm hätte gleich sein können, als Unternehmer, als Geldanleger, Spieler, Reicher, als Rentier. Es war der Beleg, dass er sich Position und Besitz «verdient» habe und kein Zweifel daran mehr aufkommen könne – das ist die Botschaft, auf die es ankommt. Und diese Rechtfertigung ist eine Grundformel, die bis zum obszönen Reichtum der Milliardär:innen fortwirkt.
Laut dem letzten Oxfam-Bericht werden die Milliardär:innen weltweit mehr, deren Vermögen mitunter um hundert Millionen US-Dollar pro Tag gewachsen ist. Braucht es wirklich ein besonderes Klassenbewusstsein, um diese enorme Ungleichheit der globalen Einkommensverteilung kritisch zu bemerken? Schämen sich die Reichen eigentlich nicht? Oder wichtiger noch: Wie kann eine Gesellschaft das überhaupt zulassen? Warum werden die Reichen nicht besteuert? Warum geben sie nicht selbst einfach ihren «fairen Anteil» ab?
Die Antwort, und das ist die klassischste Formel der Ideologie: Es hat alles seine Richtigkeit so. Sie sind eben wie du und ich, natürlich nicht im Ergebnis, aber darin, dass sie es sich verdient haben. Der reichste Mensch der Welt, mit einem Vermögen von über 430 Milliarden Dollar, hat sich (ob mit oder ohne Hitlergruss) an die Seite des US-Präsidenten Donald Trump geputscht und ist auch bloss die faschistoide Variante des bürgerlichen Individuums – inklusive der Fähigkeit, sich eine Welt nach seinem Vorbild zu erschaffen, weil er eben die Mittel dazu hat.
In den vergangenen Jahren gab es eine ganze Konjunktur von Kulturprodukten, in denen wir Bildungsbürger:innen uns über die Reichen erheben konnten. Filme wie «Saltburn», «Triangle of Sadness» oder «Glass Onion» zeigten die irren und abgehobenen Superreichen als abstossende und entgrenzte Figuren, eigentlich bemitleidenswert in ihrem Exzess, der ja bekanntlich Charakter verderbe und «allein nicht glücklich» mache. In dieser Sozialkritik können sich alle einig sein, ob sie selbst nun Zugang zu solchem Reichtum haben oder nicht. Aber natürlich verschiebt die Exzesskritik den Fokus vom grundsätzlichen Problem der Ungleichheit hin zu einer Frage des richtigen Masses, des Einsatzes, der Entscheidung – der Eigenverantwortung. Auch hier verkehrt sich die virtuelle Gleichheitsvorstellung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Idee von Schuld, die letztlich die konkreten Ungleichheiten legitimiert.
Die perfekte Ideologie
So wie mein Freund seine wohlhabende Existenz über die Idee rechtfertigt, er habe sich alles verdient, so braucht die Gesellschaft der Ungleichen die Idee, ihre Mitglieder seien zumindest abstrakt irgendwie gleich, chancengleich. Und die konkrete ideologische Funktion der Chancengleichheit ist es, die Ungleichheit als persönliche Verfehlung darstellen zu können. Du kriegst, was du verdienst: ob als Sanktion für die Arbeitslose, als Abschiebung für den Geflüchteten, als Selbsthilferatgeber für die strukturell Überlasteten oder eben als Erbe und Aktienanteil am Familienunternehmen.
Die Eigenverantwortung ist damit eine nahezu perfekte Ideologie. Sie hat den Nimbus von Demokratie und Freiheit, von Fortschritt und Moderne, von Geschichtsbewusstsein und Selbstverwirklichung. Sie klingt so sehr danach, dass jeder Hinweis auf strukturelle Zwänge, ja nur schon auf gesellschaftliche Zusammenhänge nach etwas Falschem klingt. Und genau darin ist sie ein sicherer Garant dafür, dass die Abhängigkeiten bestehen bleiben – und der Zwang und die Gewalt im Namen der Freiheit nach Belieben aufgedreht werden können.
Drastisch wird dies momentan in den USA vor Augen geführt, wo die soziale Mobilität vom Tellerwäscher zum Millionär ja gewissermassen zum Gründungsmythos gehört. Der autoritäre Umbau jenes Staates, in dem die Milliardäre den Ton angeben, passiert rasend schnell, vom Abbau alles Sozialstaatlichen unter dem Deckmantel der Effizienz bis zur sofortigen Deportation der «Illegalen». Das alles funktioniert mit dem Bezug auf die Idee der falschen Gleichheit, was zeigt, dass sie eben ihren Anteil an genau dieser Entwicklung trägt.
Der Liberalismus kann in Faschismus kippen, ganz ohne grossen Bruch. Bereits das preussische Religionsfreiheitsedikt Friedrichs des Grossen, «jeder soll nach seiner Fasson selig werden», ging einst über ins nationalsozialistische «Jedem das Seine». Auch heute existieren Eigenverantwortung und die Idee, jeder sei seines Glückes Schmied, nicht nur neben Austeritätspolitik, Sozialkürzungen, chauvinistischer Abwertung und jener Ordnung, die all dieser Gewalt und Rache an der Freiheit zu ihrem Recht verhilft – all das bedingt sich gegenseitig.
Trost in der Zerstörung
Die Idee der Eigenverantwortung bietet Trost selbst über den offensichtlichen Untergang hinweg, in jenem Glauben, der bis zuletzt die Faschisierung des gesellschaftlichen Lebens geschehen lässt: dem Glauben, dass man doch nicht betroffen sein könnte, dass es einen Selbsterhalt jenseits der Zivilisation und ihrer Freiheitsversprechen geben könne, gegen die man schon immer Ressentiment und Groll hegen musste, weil man spürte, dass sie uneingelöst blieben. Der Rückzug ins Private, die Normalität, mit der die Katastrophe geschieht: Sie sind die bildungsbürgerliche Entsprechung zum Marsbesiedlungswahnsinn eines Elon Musk, mit dem das besitzende Bürgertum bereits in den Faschismus übergegangen ist, um die brutale Ungleichheit, die man schon immer unter der abstrakten Gleichheit gären liess, per Dekret durchzusetzen.
Selbst angesichts all der Zerstörung ist es nicht leicht, den Schleier von den Augen zu nehmen, wie man sich landläufig Ideologie ja vorstellt. Für diesen Text, in dem ich dieser Ideologie auf die Schliche kommen wollte, stieg ich in die Anekdoten meiner eigenen bürgerlichen Entwicklung. Das ist mittlerweile ein gängiges Format: den Rechtsruck der Gesellschaft an den eigenen Eltern erklären (Didier Eribon), vom eigenen Nichtbesitz aus die Privilegien der anderen erkennen (Anke Stelling), von der eigenen Geschichte als der universellen Geschichte erzählen.
Aber diese Form der Autotheorie ist selbst Teil jener Ideologie der Eigenverantwortung. Denn in ihr zeigt sich ja die Vorstellung, der gesellschaftliche Zusammenhang sei über die eigene Erfahrung unmittelbar zugänglich: Ich selbst kann kraft der Reflexion über mein Leben aufzeigen, wie die Welt funktioniert. Und damit andersherum: Wenn sich an meinem Leben nicht der Widerspruch der Welt erfahren lässt, dann bin ich irgendwie zu blöd oder zu verblendet, um die Wahrheiten zu erkennen.
Was hiesse es also, sich mit einer solchen Welt abzufinden, um in ihr zurechtzukommen? Hiesse es nicht, dem Untergang in die Augen zu sehen, dem Ende jener Gleichheit, die die reale Ungleichheit so lange ermöglichte, bis diese nun in aller Gewalt durchgesetzt wird? Als Bildungsbürger, gesellschaftlich überflüssig und absehbar nur noch frei von allen liberalen Schutzrechten, steht man anscheinend vor einem alten Scheideweg: Radikalisierung nach links, zur Gleichheit der Menschen, oder das Anbiedern an den Faschismus, in der Hoffnung, die Ordnung der gewaltsamen Ungleichheit würde zum eigenen Vorteil ausgehandelt. Man nannte diese gesellschaftliche Alternative Klassenkampf.
Alex Struwe, geboren 1987, ist Wissenschaftsredaktor bei «nd.DieWoche». Demnächst erscheint sein Buch «Totalität. Marx, Adorno und das Problem kritischer Gesellschaftstheorie» (Verbrecher Verlag).