Erinnerungskultur: Stillgestanden!

Nr. 6 –

Blocher, Pomp und andächtige Verklärung: Ein Festakt in Meilen zum 100. Todestag des Armeegenerals Ulrich Wille lässt tief blicken.

Festakt zum 100. Todestag des Armeegenerals Ulrich Wille: Armeechef Thomas Süssli sitzt neben Christoph Blocher im Jürg-Wille-Saal des Restaurants Löwen in Meilen
General Ulrich Wille sei «alles andere als unumstritten» gewesen: Armeechef Thomas Süssli sitzt neben Christoph Blocher im Jürg-Wille-Saal des Restaurants Löwen in Meilen.

Gross war die Aufregung, als im Frühjahr 1987 Niklaus Meienbergs Artikelserie über Ulrich Wille (1848–1925), General der Schweizer Armee während des Ersten Weltkriegs, in der «Weltwoche» erschien. Wenige Monate später lagen die Texte auch als Buch vor: «Die Welt als Wille & Wahn. Elemente zur Naturgeschichte eines Clans».

Selten hat eine Publikation die hiesige Bourgeoisie derart erzürnt. Kopien unveröffentlichter Briefe des Generals an seine Frau Clara, die ihm in einer Ausstellung über die Familie Wille im Ortsmuseum Meilen in die Hände kamen, entnahm Meienberg nicht nur so manches zu Willes Begeisterung für Deutschland und das preussische Heer sowie zu seiner antidemokratischen und autoritären Haltung. Mindestens so interessant sind die wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen des grossbürgerlichen Clans der verschwägerten Familien Wille und Schwarzenbach, die er offenlegte.

So etwa, wie die Deutschlandfreundlichkeit bei einigen in und um diese einflussreichen Kreise in helle Begeisterung für den Nationalsozialismus überging. Belegt ist das unter anderem mit einem Besuch Adolf Hitlers am 30. August 1923 in Zürich, in der Villa Schönberg von Ulrich Wille junior, einem Sohn des Generals. Hitler präsentierte dort vor rund vierzig Persönlichkeiten sein politisches Programm – worauf die vornehme Gesellschaft ihm rund 30 000 Franken spendete (heute wären das über 200 000 Franken). Clara Wille, geborene Gräfin von Bismarck, notierte in ihr Tagebuch: «Hittler äusserst sympathisch! Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll.»

Die Reaktionen auf Meienbergs Buch waren heftig. Wie sehr das rechtskonservative Schweizbild hierzulande an einer ehrvollen Darstellung einer Figur wie Ulrich Wille hängt, zeigte sich auch über drei Jahrzehnte später: Im November 2018, hundert Jahre nach der militärischen Niederschlagung des Landesstreiks, verbreitete Christoph Blocher an einem Grossanlass in Uster erneut die Behauptung, wonach jener Streik der Versuch einer bolschewistischen Revolution gewesen sei – um so den damaligen Armee-Einsatz unter Willes Befehl zu rechtfertigen. Dabei war schon zu dieser Zeit erwiesen, dass es sich beim Landesstreik um eine demokratische Bewegung mit rund 250 000 Arbeiter:innen gehandelt hatte, die sich gegen die soziale Misere jener Zeit wehrten.

Das erleuchtete Antlitz

Die Sturheit, mit der das Rechtsbürgertum die militärische Intervention gegen die Zivilbevölkerung, bei der vier Arbeiter erschossen wurden, zu legitimieren versucht, hat ihre Gründe. Kaschiert werden soll, was sich unter dem Deckmantel der Landesverteidigung verbirgt: Klassenkampf von oben. Bereits am 31. Januar 1975, zu Willes fünfzigstem Todestag, gab es in Meilen – Heimatort der Familie – einen Festakt mitsamt Anbringung einer Gedenktafel sowie Kranzniederlegung auf seinem Grab. Hauptreferent: Christoph Blocher. Am vergangenen Donnerstag, fünfzig weitere Jahre später, sitzt der Altbundesrat auch anlässlich des 100. Todestags des Meilemer Ehrenbürgers in der vordersten Reihe. Neben ihm: diverse Politiker, Armeechef Thomas Süssli sowie Angehörige der Familie Wille samt Ur- und Ururenkel:innen des Generals.

Rund 400 Menschen, überwiegend eher gut situiert wirkende ältere Männer, füllen den nach einem Enkel des Generals benannten Jürg-Wille-Saal im Gasthof Löwen bis auf den letzten Platz. Dutzenden Gedenkwilligen bleibt der Eintritt aus feuerpolizeilichen Gründen verwehrt. Begleitet wird die Feier von schwer bewaffneten Polizisten. Um exakt 19 Uhr beginnt das Militärspiel der Logistikbrigade 1, unter anderem mit Mani Matters «Hemmige». Zur Nationalhymne hält es niemanden auf dem Hocker. Stramm stehen sie da, die Blicke aufs erleuchtete Antlitz des Generals auf der Leinwand gerichtet, als ginge es auf in einen Kampf.

Wie noch einmal dieses mächtigen Mannes gedenken, hundert Jahre nach seinem Tod? Dieses Mannes, der bestrebt war, die Bürger mittels Drill und Disziplin in soldatische Wesen zu verwandeln? Jenes Oberbefehlshabers, der am 4. November 1918, gleich zu Beginn des Landesstreiks, vom Bundesrat ein immenses Militäraufgebot forderte, «um dieses Gesindel in seine Schlupfwinkel zurückzuscheuchen»? Und speziell aus heutiger Sicht, da die autoritäre Rechte zunehmend an Macht gewinnt: Was könnte sich bei dieser Gelegenheit aus der vielfältigen Beziehungsgeschichte hiesiger Kreise aus Wirtschaft und Politik mit rechtsautoritären Bewegungen lernen lassen – bis hin zum viel bejubelten Auftritt von Alice Weidel vor rund tausend Mitgliedern eines Wirtschaftsklubs vor wenigen Monaten im Zürcher Kongresshaus?

Aber wir befinden uns schliesslich an einer Feier. Es geht um die hohe Kunst der Restauration. Und so würdigt und lobpreist Christoph Hiller, der freisinnige Gemeindepräsident, den seligen Ehrenbürger in den höchsten und schönsten Tönen. Auch etwas Rührung darf sein. So ist zu erfahren, wie «liebevoll der General sich um den grossen Garten» gekümmert habe. Und dass es eine «prachtvolle Sternennacht» gewesen sei, in der er «für immer die Augen schloss».

Thomas Süssli macht in seiner Festrede doch auch noch kurz darauf aufmerksam, dass Wille als «einer, der sich um die politischen Grenzen seiner Funktion foutierte», schon zu Lebzeiten «alles andere als unumstritten war». Ansonsten aber nutzt der Armeechef die Feier primär dazu, Werbung für den Ausbau der Armee zu machen. Wie dazumal habe man auch heute die geopolitischen Herausforderungen zu spät erkannt. Diesbezüglich sei Wille mit seinen Bemühungen, die Armee kriegstauglich zu machen, ein Vorbild. Sein Leitsatz «Vorbeugen ist wichtiger als Heilen» sei visionär.

Die Güte des grossen Geistes

Der Satz findet auch im abschliessenden Teil der Feier Erwähnung. In der «Podiumsdiskussion zu einer schillernden Persönlichkeit» kommen fast nur Militärhistoriker:innen zur Sprache. Unter der Leitung von Rudolf Jaun, emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Militärgeschichte an der Universität Zürich, diskutieren: Daniel Lätsch, Brigadier, ehemaliger Direktor der Militärakademie der ETH und Kommandant der Generalstabsschule; Lea Moliterni Eberle, freie Historikerin, sowie Michael Olsansky, Dozent an der Militärakademie der ETH.

Letzterer würdigt Willes Taktik gegenüber dem Generalstreik mit ebendieser Philosophie des Vorbeugens: «nicht als gegenrevolutionären Schlag, sondern eher im Sinne eines Vorbeugens durch imposantes Auftreten». Dieser Plan sei schliesslich auch aufgegangen. In seinen Augen, so Olsansky, hätten Willes Texte «fast etwas Martin-Luther-Mässiges». Daraus erkläre sich vielleicht «seine Resolutheit und zum Teil auch Gnadenlosigkeit». Bei all dem aber dürfe die Güte des Generals nicht vergessen werden, «das müsste durch die neue Forschung medial verbreitet werden». Auf jeden Fall sei Wille ein grosser Geist gewesen.

Lätsch wiederum ehrte Wille als «Führungsphilosophen», der in seiner Diagnose der damaligen Kriegsuntauglichkeit der Armee als Erster über soldatische Erziehung sprach. Daraus sei eine «Wertehaltung mit Langzeitwirkung» entstanden, mit einer Jüngerschaft bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Moliterni Eberle schliesslich, die sich für ihre Dissertation durch über 3000 Begnadigungsgesuche an den General gelesen hat, betont dessen gnädigen Charakter. Mindestens drei Gesuche habe er pro Tag bearbeitet – und da und dort auch Gnade walten lassen, erzählt sie. Für jene Zeit, als noch das Militärstrafrecht von 1849 galt, sei das alles andere als selbstverständlich gewesen.

«Vom Sturm», den Meienbergs Buch einst auslöste, sei «nicht viel übrig geblieben», meint Jaun. Womit die feierliche Verklärung ihren würdigen Abschluss findet.

Nach Jahrzehnten strikter Sperre machte die Familie Wille am vergangenen Samstag ihr von Jürg Wille aufgebautes und der Zentralbibliothek geschenktes Familienarchiv für die Forschung zugänglich: www.zbcollections.ch.