Fahnenflucht beim VBS: Der Kollaps ist da
Missstände beim Rüstungsbetrieb, Intrigen, Rücktritte des Führungspersonals: Die dramatische Krise im Verteidigungsdepartement ist Ausdruck politischen Versagens von Gesamtbundesrat und Parlament.

Der Tag begann dunkel für das Verteidigungsdepartement VBS, und er endete tiefschwarz. Frühmorgens am Dienstag wurde eine umfassende Untersuchung der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) publik, die schockierende Missstände beim bundeseigenen Rüstungsbetrieb Ruag MRO aufdeckte: mutmasslich betrügerische Geschäfte eines ehemaligen Ruag-Kadermitglieds. Der geschätzte Schaden: «im hohen zweistelligen Millionenbereich». Weiter konnte die EFK aufzeigen, dass die Verwaltung und die Entsorgung von Armeematerial durch die Ruag unkontrolliert chaotisch waren. Das VBS wusste seit Jahren von den Missständen, war aber weder willens noch fähig, seine Aufsichtspflicht wahrzunehmen. Eine Bankrotterklärung.
Der Ruag-Skandal machte am Dienstagmorgen gerade die Runde, als die Meldung des Doppelrücktritts von Armeechef Thomas Süssli (auf Ende 2025) und Geheimdienstchef Christian Dussey (auf März 2026) hereinplatzte – die Information gelangte offenbar über gleich mehrere Lecks im Umfeld des Bundesrats an die NZZ. Departementsvorsteherin Viola Amherd (Die Mitte) hatte bereits Mitte Januar ihren Rücktritt bekannt gegeben. Auch Luftwaffenkommandant Peter Merz und der hohe Beschaffungsbeamte Darko Savic, die zentralen Figuren hinter der F-35-Kampfjetbeschaffung, dem teuersten Rüstungsgeschäft der Schweizer Geschichte, verlassen das VBS. Ein Scherbenhaufen.
Linke will PUK, Bürgerliche wiegeln ab
Die beiden Vorfälle haben über das ganze politische Spektrum hinweg Besorgnis ausgelöst. Ausgerechnet in dieser geopolitisch so instabilen und heiklen Lage – mit dem nun dreijährigen Krieg gegen die Ukraine und einer neuen US-Regierung, die möglicherweise das transatlantische Bündnis zwischen den USA und Europa begräbt – stehen die wichtigsten Sicherheitsinstitutionen führungslos da.
Wie konnte es zu einem derartigen Kollaps kommen? Bis jetzt wurden die genauen Gründe für die Rücktrittswelle im VBS jedenfalls nicht hinreichend erklärt. Im Fall von Geheimdienstchef Dussey gehen Politiker:innen davon aus, dass Umstrukturierungsmassnahmen innerhalb des Dienstes und eine damit verbundene grosse Unzufriedenheit des Personals ausschlaggebend für den Rücktritt des Exdiplomaten waren. Bei Thomas Süssli, Cyberexperte und Exbanker, dürfte die akute Beschaffungskrise der Armee eine Rolle spielen. Nur wenige Wochen vor dem aktuellen Ruag-Skandal wies die Finanzkontrolle auf gravierende Probleme bei der 300-Millionen-Franken-Beschaffung von israelischen Aufklärungsdrohnen hin, die auch nach über einem Jahrzehnt Projektlaufzeit noch immer nicht einsatzfähig sind. Und kurz vor Weihnachten verfasste die parlamentarische Finanzdelegation ein alarmierendes Schreiben an Amherd: Gleich sieben Rüstungs- und IT-Beschaffungen im Umfang von neunzehn Milliarden Franken seien in kritischem Zustand, es gebe zunehmende Verzögerungen, steigende Risiken und ungenügende Ressourcen. An einer Pressekonferenz am Mittwoch übten sich Amherd, Süssli und Dussey in Schadensbegrenzung: Alles verlaufe nach normalen Prozessen.
«Der Ruag-Skandal hat das Fass zum Überlaufen gebracht», sagt der Grüne Balthasar Glättli. Doch es sei zuvor schon übervoll gewesen, und das Vertrauen in die Entscheidungsträger Amherd und Süssli sei zunehmend geschwunden. «Man fragt sich: Ist da irgendwo noch ein Brand, den wir bis jetzt übersehen haben?» Seine Partei fordert deshalb «eine Parlamentarische Untersuchungskommission zur Aufklärung der gravierenden Missstände». Eine PUK fordert auch die SP-Spitze. «Es braucht eine schonungslose Analyse, wer für das Chaos die Verantwortung trägt», sagt SP-Kopräsident Cédric Wermuth. Und auch die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) fordert volle Transparenz über die Ursachen und Verantwortlichkeiten dieses «Führungskollapses». Nur so könne das Vertrauen in das VBS wiederhergestellt werden. Ob tatsächlich eine PUK eingesetzt wird, ist allerdings fraglich. Zwar drängen auch die bürgerlichen Parteien auf eine Klärung, sehen aber bisher keine Notwendigkeit für eine PUK.
Letztlich geht die nun eskalierte Krise im VBS weit über das Departement sowie personelle und strukturelle Verfehlungen hinaus. Sie ist Ausdruck eines politischen Versagens des Gesamtbundesrats ebenso wie des bürgerlich dominierten Parlaments. Es fehlt in der Sicherheitspolitik an einer kohärenten Strategie. Angesichts einer zunehmend fragilen geopolitischen Lage, die sich bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland andeutete, stellen sich schon länger drängende Fragen: Welche Rolle will die Schweiz für die Sicherheit Europas spielen? Und welche Konsequenzen hat diese Rolle für die Ausrichtung der Armee? Wie sinnvoll ist das von der SVP vehement geforderte Festhalten an der bewaffneten Neutralität, mit der sich die Schweiz international isoliert und sich um die übergeordnete Verteidigung von menschenrechtlichen und demokratischen Errungenschaften foutiert?
Kassen gefüllt – aber wofür?
Statt Antworten auf diese Fragen zu suchen, wählten Bundesrat und Parlament einen anderen Weg, den der nun scheidende Armeechef Süssli geschickt vorgepfadet hat: Er richtete die Armee in seinem berüchtigten Schwarzbuch (siehe WOZ Nr. 23 / 24) nicht an realistischen Bedrohungsszenarien aus, sondern an einer auf allen Ebenen hochgerüsteten Armee – ohne zu wissen, wofür. Heisst: mehr neue Panzer für die Bodentruppen, das weltweit teuerste Waffensystem für die Luftwaffe und die grössenwahnsinnige Idee einer IT- und Kommunikationsstruktur, die ein militärisches Lagebild in Echtzeit für jeden Soldaten ermöglichen soll. Bundesrat und Parlament liessen Süssli nicht nur gewähren, sie schoben in den letzten Jahren immer noch mehr Steuergelder in die Kassen der Armee. Dreissig Milliarden Franken sollen es in den nächsten vier Jahren sein – auf Kosten von Bildung, Klimaschutz oder internationaler Zusammenarbeit.
Folgerichtig fordert die GSoA angesichts der jüngsten Beschaffungsskandale und der weiteren Verfehlungen des VBS ein sofortiges Einfrieren der für die besagten Beschaffungen vorgesehenen Milliarden. «Es ist höchste Zeit für eine realistische Bedrohungsanalyse, die sich an den grössten Risiken orientiert», sagt GSoA-Sekretärin Roxane Steiger. Auch die Grünen fordern einen «sofortigen Marschhalt», und die SP lehnt es «dezidiert ab, blindlings weitere Milliarden in diese dysfunktionale Armee zu investieren».
Der Kollaps ist da, die Krise dramatisch. Was braucht es noch, um die Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Grundsatzdebatte wahrzunehmen? Amherd am Mittwoch: «Ich verstehe die Aufregung nicht.»