Dick Marty (1945–2023): Unser letzter «1848er»
Für Dick Marty, den vielleicht letzten wirklich radikal Liberalen hierzulande, war Freiheit nie ohne Gerechtigkeit denkbar.
«Wo immer ein Unrecht begangen worden ist, bedroht dies die Gerechtigkeit auf der ganzen Welt.» Kennen Sie den Schweizer Liberalen, der sich dieses Handlungsmotiv von Martin Luther King zu eigen gemacht hat? Diesen Liberalen, der sein letztes Buch, quasi seine Lebensbilanz, unter das Motto von Albert Camus stellte: «Was ist ein Rebell? – Ein Mensch, der Nein sagt.» Den Liberalen, der immer wieder den sardischen Kommunisten Antonio Gramsci zitierte? Den die WOZ 2009 zu ihrem Bundesratskandidaten kürte?
Es geht hier um den Tessiner Rechtsanwalt, Rechtswissenschaftler, Staatsanwalt, Regierungs-, Stände- und Europarat Dick Marty. Er erlag am 28. Dezember, kurz vor seinem 79. Geburtstag, zu Hause in den Hügeln ob Lugano einem schweren Krebsleiden. Mit ihm hat die Schweiz ihren letzten «1848er» verloren.
«Liberal» ist gewiss ein unzureichendes Attribut. Doch Marty verstand sich als «Liberalen». Nicht nur leicht ironisch, wie 2008 gegenüber Roger de Weck in einer «Sternstunde» des Schweizer Fernsehens, als er sagte: «Wissen Sie, ich bin ein Liberaler, weil ich in meiner Partei auch eine ganz andere Meinung vertreten kann. Ich vergesse nicht, dass die FDP eigentlich eine progressive Partei war; die Partei, welche die moderne Schweiz nach 1848 aufgebaut hat. An ihr halte ich fest.»
Solidarität als Grundprinzip
Im Frühling 2009, vor Neuenburger Parteikolleg:innen, wurde er noch deutlicher. «Es gibt keinen Liberalismus ohne Werte», meinte er. «Ein werthaltiger Liberalismus kann nicht rechts von der Mitte sein!» Nicht dort also, wo sich die FDP seit der Jahrtausendwende je länger, je mehr der SVP anschleimt. Damals fasste er das Erbe des helvetischen 1848 wie folgt zusammen: «Die Schweizer haben 1848 ausserordentlich viel Mut und bemerkenswerte Voraussicht bewiesen. Ganz alleine, mitten in einem feindlichen und autokratischen Europa, entschieden sie sich für die Demokratie, für den Liberalismus und die individuellen Freiheiten. Das war ein progressiver Entscheid, ein revolutionärer sogar; ein ausserordentlicher Akt des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten und in die Zukunft.»
Dick Marty war sich der Schattenseiten des Liberalismus mehr als bewusst. Er sprach in seinem Büchlein «Bundesratswahlen: Keine Castingshow» sogar von den «Exzessen und den Missbräuchen, die im Namen des Liberalismus» geschehen seien: «Der wahrhafte Feind, ein tödlicher Feind des Liberalismus ist tatsächlich der Neoliberalismus!» Marty wusste, dass wir konkret werden müssen, wenn wir die Maxime von Freiheit und Gerechtigkeit ernst nehmen wollen. So schrieb er: «Es ist einfach, von der Selbstverantwortung zu sprechen, wenn man selber eine gute Ausbildung hinter sich hat. Diesem Grundprinzip nachzuleben, ist viel schwieriger für Menschen, die physisch, psychisch oder sozial benachteiligt sind. Es kann deshalb keine echte Selbstverantwortung und Freiheit geben, ohne eine wahrhafte Solidarität und ohne den einzelnen Menschen in seiner Würde und Unversehrbarkeit mit all seinen Grundrechten ins Zentrum […] zu stellen. Die Menschenrechte sind effektiv untrennbar verbunden mit einer liberalen Werthaltung. […] Es kann keine echte Freiheit geben ohne Gerechtigkeit. Die sozialen Ungleichheiten und der Verlust jeglicher ethischer Ansprüche in bestimmten Bereichen der Wirtschaft müssen […] uns zum Handeln und Widerstand veranlassen.»
Ein Wahrheitssucher
Mit diesen Einsichten gelang es Marty, die Motivations- und Inspirationsquelle zu benennen für seine Bemühungen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. So brachte er Mitte der nuller Jahre die unglaublichen Menschenrechtsverletzungen der CIA und der Bush-Regierung gegenüber unschuldigen Muslimen ebenso ans Tageslicht wie die sich selbst verleugnenden Komplizenschaften der britischen, italienischen und deutschen Regierungen. Er scheute sich auch nicht, gegen den Widerstand der eigenen Aussenministerin und anderer europäischer Regierungen selbst den Uno-Sicherheitsrat an die Beachtung der eigenen rechtsstaatlichen Ansprüche zu erinnern. Auch kam er den Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf die Spur, die die «Befreiungsarmee des Kosovo» verantworten musste. Dabei folgte Marty einer weiteren für ihn ganz wesentlichen Erkenntnis: dass ohne Rekonstruktion der wahren Geschehnisse und Verantwortlichkeiten eine Versöhnung alter Feinde unmöglich ist.
In all diesen Untersuchungen von weltpolitischer Bedeutung machte der manchmal sehr einsame, aber nicht allein gelassene Stände- und Europarat, wie er selber mehrmals betonte, die schopenhauersche Erfahrung, wonach der Sucher nach der Wahrheit lange ausgelacht und anschliessend heftig bekämpft wird – bis die gefundene Wahrheit plötzlich als selbstverständlich gilt und all die Widerwärtigkeiten während der langen Wahrheitsfindung total ignoriert oder gar negiert werden. Dazu eines seiner Lieblingszitate von Gramcsi: «Gehasst werden von mir nur die Gleichgültigen.»
Dick Martys politisches Leben ist voller solcher Leidensgeschichten. Sie waren seiner Meinung nach all seine Kreuzwege wert. Weil er sich gewiss war, dass wir nach ihm weiterkämpfen werden für das, was ihm elementar schien für unsere Zivilisation: die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die Demokratie und die Wahrheit. Ob links, liberal oder gar beides: Machen wir uns auf diesen Weg, nehmen wir uns Dick Martys Engagement zum Vorbild.
Andreas Gross (71), Politikwissenschafter und Historiker, teilte als SP-Nationalrat mit Marty dessen Zeit im Bundeshaus und im Strassburger Europarat. Er war Mitherausgeber von Martys Bewerbungsbüchlein als Bundesratskandidat: «Bundesratswahlen: Keine Castingshow» (Éditions le Doubs, St. Ursanne 2009).