Literatur: Der Tag, an dem sich alles auf null stellte
Lizzie Doron ringt sich mitten im Strudel von Massaker und Krieg Sätze ab, die in verdichteten Alltagsepisoden vom permanenten Ausnahmezustand in Israel berichten.
Am Tag danach, dem 8. Oktober 2023, reist die Tochter mit ihrer Partnerin und den drei kleinen Buben aus dem Urlaub zurück nach Tel Aviv. Sie fahren durch die Wüste Negev, Schauplatz der Massaker am Nova-Festival, das Handy ist auf laut gestellt, stundenlang – wer weiss, was auf dem Weg nach Hause passiert. «Wir spielen Alltag», nennt Lizzie Doron das, die Absurdität der Situation erschliesst sich im Untertitel ihres Buches: «Leben in Israel seit dem 7. Oktober».
Es ist ein schmales Bändchen geworden. Sie habe das Schreiben neu lernen müssen, so Doron im Nachwort. Ein «gestörtes Schreiben» sei es gewesen, «ein Schreiben aus dem Schutzraum», «antiliterarisch», aber «wahr», tatsächlich so erlebt. Die einzelnen Abschnitte und Episoden sind kurz, atemlos, der Luftalarm zerschneidet immer wieder Zeilen und Gedanken. Manches mutet tragikomisch an. Eine Freundin darf nach der Hornhauttransplantation nicht weinen – dabei hat sie doch eben erfahren, dass der Spender ihr Nachbar war, der vor wenigen Tagen in Gaza umgekommen ist. Jetzt hat sie das Gefühl, sie «führe die Überreste eines getöteten Soldaten spazieren».
Mit falschem Namen auf Uber
Der Krieg ist omnipräsent, nicht nur auf dem Papier. Sein Schatten legt sich über jedes Familientreffen in Tel Aviv, verfolgt Doron bis in ihre zweite Heimat Berlin und in ihre Träume. Ein generationenübergreifendes Trauma erwacht neu: Freunde, die im Oktober 1973 während des Jom-Kippur-Kriegs gestorben sind; die Mutter, die an der Selektionsrampe in Auschwitz einen falschen Namen nannte und die Shoah überlebte, später aber nicht mit all den Toten zu leben vermochte und verrückt wurde. In Berlin wird Doron diesen falschen Namen für die Uber-App übernehmen, um nicht als Jüdin aufzufallen.

In Berlin wird Lizzie Doron auch an ihrer ersten Demonstration für Israel teilnehmen. Sie, die linke Friedensaktivistin, deren Werk auf Hebräisch keinen Verlag findet. «Seit so vielen Jahren kämpfe ich gegen die Besatzung, gegen das Nationalstaatengesetz, das nichtjüdische Israelis diskriminiert, das ganze letzte Jahr bin ich gegen die sogenannte Justizreform auf die Strasse gegangen, habe gegen eine Regierung demonstriert, die den demokratischen Staat demontiert», stellt sie fest, verwundert über sich selbst. Und wird noch in derselben Nacht Bilder der am 7. Oktober verschleppten Geiseln in Berlin aufhängen.
An jenem Datum, so beschreibt es Doron, «hat sich alles bei mir auf null gestellt». Schon in den ersten Tagen nach den Massakern an der israelischen Zivilbevölkerung engagiert sie sich in einem Erinnerungsprojekt, verfasst in wenigen Wochen Dutzende von Nachrufen. Bald sitzt ein Mann aus dem Kibbuz Be’eri in ihrer Wohnung, der von sich erzählt, er sei jetzt «der Einzige in Be’eri, der siebenundvierzig ist», und ihr auf dem Handy ein Video der Beerdigung seiner ältesten Tochter zeigt. Später erst realisiert Doron: «Yarin P. Die Rettungssanitäterin, Nachruf Nummer 14.»
Ein Mensch sein
Zu den täglichen Routinen gehört jetzt auch, am Platz der Geiseln vorbeizugehen. Dort, wo all die Stände mit den T-Shirts stehen, von denen auch Doron eins kauft. Sie zeigen Bilder der Entführten, mit Aufdrucken wie «Unser Herz ist gefangen in Gaza».
Auch ein nachgebauter Tunnel steht auf dem Platz, er soll die Bedingungen aufzeigen, unter denen die Geiseln überleben müssen. Guides bieten Tourist:innen Führungen durch die zerstörten Kibbuzim an. Einer Israelin, die klagt, emotional ganz abgestumpft zu sein, rät eine der Therapeutinnen, die täglich auf dem Platz sitzen, sich einer solchen Tour anzuschliessen: «Die Bilder und Gerüche dort, wo es passiert ist, wecken die Sinne auf ganz eigene Weise.»
Was sucht Doron auf dem Platz? Warum trauert sie mit Angehörigen um Soldaten, die in Gaza umgekommen sind? Geht samstags an die immer gleichen Demonstrationen? «Um ein Mensch zu sein», sagt ihr Mann, als die Tochter einmal mehr von Auswandern spricht: «Jetzt muss man in Israel sein.»
Und sie, die in «Sweet Occupation» 2017 so eindrücklich davon erzählt hat, wie wichtig es ist, die Tragödie des anderen zu verstehen, sich mit dem Palästinenser Mohammed angefreundet hat, der als Sechzehnjähriger israelische Soldaten angriff und später bei der israelisch-palästinensischen Friedensbewegung Combatants for Peace aktiv geworden ist? Zehn Tage nach den Massakern der Hamas ruft Mohammed sie an, fragt, wie es ihr geht. Und Doron kann nur eines denken: Er soll endlich Worte finden für all das, was passiert ist; soll sagen, dass er schockiert ist, dass er beschämt ist …
Sie werden kein zweites Mal miteinander telefonieren. Doron verfolgt am Fernsehen die Bodenoffensive der Armee in Gaza, sieht Menschen, die aus zerstörten Häusern fliehen, sieht die Toten. Und kann doch «all das Furchtbare, das geschieht, nicht mehr in mich aufnehmen».
Auf null gestellt, so wird klar, ist auch Dorons Mitgefühl für die Tragödie der anderen. Sie haben kein Gesicht wie die Geiseln, keine Geschichte wie die Getöteten in ihren Nachrufen. Nicht einmal Namen haben sie. Und wenn sie trotz allem in Lizzie Dorons Leben einbrechen, so tun sie es mehrfach gebrochen: als Facebook-Posts, die sie via E-Mail von ihrem Neffen Ari aus den USA erreichen und im Buch in anderer Schrift und abgesetzt erscheinen – als andere.
Schock im Coiffeursalon
Allenfalls scheint Doron ob ihrer eigenen Gedanken zu erschrecken, sich über sich selbst zu wundern. Als betrachtete sie eine Fremde. Dass sie überhaupt zu denken wage, was es eigentlich den Geiseln helfe, was die israelische Armee gerade in Gaza tue. Im Coiffeursalon verfolgt sie ein Streitgespräch zwischen einer jungen Frau und einer Genozidforscherin, deren Bemerkung «Auch wir begehen eine Shoah … in Gaza» sie trifft «wie ein Schlag». Die junge Frau, so erfährt man nur Zeilen später, war eine der Überlebenden des Massakers am Nova-Festival und hat sich, nur wenige Monate nach dem Coiffeurbesuch, an ihrem 22. Geburtstag das Leben genommen.
An solchen Stellen wird vielleicht am ehesten deutlich, was Doron in «Wir spielen Alltag» versucht: in die Rolle der Chronistin zu finden, die aufzeichnen muss, was mit den Menschen um sie herum geschieht, um nicht selber unterzugehen. Dazu passen auch Sätze wie jener von Aris Vater, den die Verwandtschaft in Israel nicht sehen will. «Letztendlich seid ihr wie alle in Israel. Ihr versteht nicht, wie ihr von aussen wirkt.» Das spiegelt Doron an einer der wöchentlichen Demonstrationen auch ihrem linken Umfeld: «Und hinterher werdet ihr mich fragen, warum hasst man uns auf der ganzen Welt? Weil wir es verdient haben, weil wir geschlafen haben, weil wir phlegmatisch waren, weil die Besatzung uns müde gemacht hat, weil auch die Linke hier keinen Biss mehr hat.»
Lizzie Dorons Tochter vermag nicht länger Alltag zu spielen. Kurz vor dem Jahrestag der Massaker vom 7. Oktober eröffnet sie der Mutter, sie habe Flugtickets für die ganze Familie gekauft. Ende 2024 wird sie mit ihrer Partnerin und den drei Buben in die USA auswandern, wo sie eine neue Stelle angenommen hat.

Lizzie Doron liest an den Solothurner Literaturtagen, 30. Mai bis 1. Juni 2025. www.literatur.ch