Ein Jahr Danach in Israel: Wo das Kindergeschrei verstummt ist

Nr. 40 –

Der Kibbuz Kfar Aza wurde am 7. Oktober 2023 mit am schlimmsten vom Terror der Hamas getroffen. Die ehemaligen Bewohner:innen sind gespalten über den richtigen Weg in die Zukunft und kämpfen gegen den Zerfall der Gemeinschaft.

Kibbuzbewohner Avichai Brodutch wässert seinen Garten
«Das war der Mittelpunkt meines Lebens», sagt Kibbuzbewohner Avichai Brodutch …
Plakat an der Wand eines Hauses im Kibbuz Kfar Aza, welches die Freilassung der Hamas-Geisel Keith Samuel Siegel fordert
… dann kam der 7. Oktober. Sein Nachbar ist bis heute in der Gefangenschaft der Hamas.

In Ilana und Arje Tzuks Küche lässt nichts mehr darauf schliessen, was in Kfar Aza vor einem Jahr passiert ist. Im August ist das Ehepaar zurück in das Kibbuzdorf zwei Kilometer vor der Grenze zum Gazastreifen gezogen, das beim Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 mit am schlimmsten getroffen wurde. 64 von rund 950 Kibbuzniks töteten die Terroristen, 19 entführten sie.

Für die Tzuks ist die Rückkehr mehr als eine persönliche Entscheidung: «Wenn wir sehen, dass an der Grenze zum Libanon ein ganzer Landstrich verlassen wurde, ist es unsere Verantwortung als Bürger, dass das hier im Süden nicht passiert», sagt Ilana Tzuk. Ein Satz wie aus den Anfängen der Kibbuzbewegung, deren Ortschaften an strategischen Positionen entlang der Grenzen des israelischen Staatsgebiets errichtet wurden.

Doch bisher sind nur gut vierzig ehemalige Bewohner:innen dem Beispiel der 61-Jährigen und ihres 66-jährigen Mannes gefolgt. Aus dem Fenster fällt der Blick auf eine ausgestorbene Strasse, einen platten Basketball, etwas weiter ein umgestürztes Fahrrad. Keine der zwanzig Familien aus der Strasse ist bisher zurückgekehrt, obwohl dieser Teil vom Massaker weitgehend verschont blieb. Bisher sind vor allem ältere Bewohner:innen zurückgekommen. Arje Tzuk sagt: «Das fehlende Kindergeschrei ist schlimmer als die Zerstörung. Ohne die junge Generation werden wir keine Zukunft haben.» Auch die drei erwachsenen Kinder der Tzuks sind bisher noch nicht zurück.

Vier Strassen weiter lässt Avichai Brodutch im Garten seines Hauses aus einem Schlauch Wasser auf Salbeibüsche und Zitronenbäume regnen. Der 43-Jährige würde gerne definitiv zurückkommen. Bedeckt von Staub und Sand, steht ein grosser Holztisch auf der Veranda. «Das war der Mittelpunkt meines Lebens», sagt Brodutch. Hier hätten morgens seine Frau und die drei Kinder gesessen – und abends Freund:innen.

Das war vor der Entführung seiner Familie. Jetzt seien vier seiner engsten Freunde tot. Am Haus seines Nachbarn steht auf einem Plakat, dass er sich bis heute in Hamas-Gefangenschaft befindet.

Angst vor der Rückkehr

Als die islamistischen Gruppen am frühen Morgen des 7. Oktober ins Dorf eindrangen, stürmte Brodutch als Mitglied des Verteidigungsteams zur Waffenkammer im Dorfzentrum. Als er Stunden später zu seinem Haus zurückkehrte, hatten die Terroristen seine Frau Hagar und die Kinder Ofri, Yuval und Uriah nach Gaza entführt, zusammen mit der dreijährigen Tochter der ermordeten Nachbar:innen.

Brodutch pflückt Schnecken vom Zitronenbaum und schleudert sie in Richtung des Kibbuzzauns. Dahinter sind die Ruinen von Gaza-Stadt zu sehen, dazwischen die israelische Grenzbefestigung. Rund 1140 Menschen töteten die Hamas und andere Gruppen vor einem Jahr, 250 nahmen sie als Geiseln. Seitdem hat die israelische Armee im Gazastreifen laut palästinensischen Behörden mehr als 41 000 Menschen getötet. Fast alle der über zwei Millionen Bewohner:innen wurden vertrieben.

Es ist nicht zuletzt Brodutch zu verdanken, dass heute bis auf fünf fast alle Verschleppten aus Kfar Aza wieder frei sind. Eine Woche nach dem Massaker fuhr er mitten in der Nacht nach Tel Aviv und setzte sich mit einem Schild vor das Armeehauptquartier. Darauf stand: «Meine Familie ist in Gaza». Es war der Beginn der Proteste für ein Geiselabkommen. Unter grossem öffentlichem Druck stimmte die israelische Regierung Ende November einer Feuerpause und einem Gefangenenaustausch zu. Brodutch konnte seine Familie nach 51 Tagen wieder in die Arme schliessen.

«Anfangs waren wir überglücklich. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich realisierte, dass wir nicht mehr sind wie zuvor.» Das erste halbe Jahr schliefen sie zu fünft in einem Bett. Die Kinder hätten sich nicht alleine in andere Räume getraut. Mittlerweile seien sie zu zwei Betten übergegangen. «Gestern sagte meine Tochter, dass sie nicht bei mir schlafen wolle, weil die Hamas mich zuerst erschiessen würde, wenn sie nochmals kämen», erzählt er.

Zusammen mit etwa der Hälfte der ehemaligen Bewohner:innen leben die Brodutchs heute im Kibbuz Schefajim, eine halbe Autostunde nördlich von Tel Aviv. Anfangs von der Regierung weitgehend alleingelassen, organisierten die dortigen Bewohner:innen die Unterbringung im kibbuzeigenen Hotel, in leer stehenden und anderen hastig errichteten Wohneinheiten. Auch wenn die meisten Kibbuzim die sozialistischen Ideen vom gemeinsamen Besitz und Einkommen längst abgeschafft haben, fühlen sie sich noch immer als Teil einer Familie. Der Kibbuz Be’eri zog temporär ans Tote Meer, Nirim nach Be’er Scheva, Kfar Aza nach Schefajim.

Vor dem Hotel liegt das Mittelmeer in Gehweite, grosse Bäume werfen Schatten auf grünen Rasen. Drinnen stehen auf einer grossen Tafel die Namen der Entführten aus Kfar Aza. Gerade hängt der Vater von Doron Steinbrecher ein neues Plakat seiner entführten Tochter auf. Daneben sind in einem Kalender die Daten der Gedenkfeiern ein Jahr danach eingetragen.

«Am Freitag ist die Zeremonie für meine Schwester», sagt Dvir Rosenfeld. Der Vierzigjährige lässt sich in der Lobby müde auf eine Couch fallen. Er kommt gerade aus einer Therapiestunde. «Wirklich helfen konnten mir die Therapeuten bisher nicht», sagt er.

Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter hat er nach einem von der Kibbuzverwaltung entwickelten System eine der wenigen Wohnungen bekommen: Punkte gab es für verlorene Angehörige und Entführte. «Wir hatten das Pech, ein Haus zu bekommen», sagt Rosenfeld trocken. Seine Schwester, sein Schwager und sein Cousin wurden am 7. Oktober ermordet.

Die meisten Leute leben seit einem Jahr in Hotelzimmern, wie Sergei Jankelewitsch. Der 43-Jährige zeigt sein Zimmer. Die fünfzehn Quadratmeter sind Arbeits-, Schlaf- und Wohnzimmer in einem. Die Hälfte der Woche teilt er das Bett mit seinen neun- und elfjährigen Kindern.

Im ganzen Land verstreut

Ein Jahr später und ohne Aussicht auf ein Ende des Krieges quält viele der zwischenzeitlich über 100 000 vertriebenen Israelis die Frage: Wie weiter? Jetzt, da die Hamas aller militärischen Brutalität in Gaza zum Trotz immer noch aktiv ist – und der Konflikt mit der Hisbollah definitiv eskaliert? Die israelische Regierung hat die finanzielle Unterstützung für Vertriebene im August verlängert, allerdings nur bis Ende des Jahres.

«In Schefajim zu bleiben, ist keine Option für mich», sagt Rosenfeld. Anfang Jahr stellte die Kibbuzverwaltung den Plan vor, kollektiv in den Kibbuz Ruchama zu ziehen, fünfzehn Kilometer östlich von Kfar Aza. Die Regierung will den Wiederaufbau der Region in den kommenden fünf Jahren mit umgerechnet rund fünf Milliarden Schweizer Franken unterstützen. Im Januar mussten sich alle Bewohner:innen äussern, rund die Hälfte der knapp 900 Überlebenden entschied sich für den Umzug. In ein paar Jahren könnte die Rückkehr nach Kfar Aza kommen.

Vielen geht das zu schnell. Brodutch, Jankelewitsch und rund hundert weitere Kfar-Aza-Kibbuzniks bleiben in Schefajim. «Meiner Exfrau ist auch Ruchama nicht sicher genug», sagt Jankelewitsch. Hunderte andere leben schon heute im ganzen Land verstreut. Dvir Rosenfeld scherzt: «Zum Glück sind wir im kleinen Israel, egal wo du hinziehst, sind es maximal zwei Stunden mit dem Auto.» Doch es sei klar, dass die Gemeinschaft zerfalle. «Wenn wir es gut machen, nicht in zu viele Teile.»

Eine sofortige Rückkehr nach Kfar Aza ist vor allem jungen Familien zu gefährlich. Noch immer wummern hin und wieder Artilleriegeschütze, knattern Helikopter und Drohnen. «Keine Ahnung, worauf sie noch zielen, vielleicht schiessen sie nur zum Spass», sagt Brodutch und zuckt die Schultern.

Als einer der wenigen aus Kfar Aza spricht er bei der Frage nach der Zukunft von Gaza nicht von Rache. «Alles, was mich interessiert, ist, dass mein Nachbar und die anderen zurückkommen», sagt Brodutch und blickt auf die Ruinen in der Ferne. Die Situation in Gaza sei furchtbar, und der Krieg helfe den Geiseln nicht. Lediglich 8 Verschleppte holte die Armee lebend zurück, 105 kamen durch Verhandlungen frei. Von den rund 100 noch in Gaza Festgehaltenen sind laut den Sicherheitsbehörden mindestens ein Drittel tot. «Ich habe nicht das Privileg, an etwas anderes als an Frieden zu glauben, bei dem Leid auf beiden Seiten», sagt Brodutch. Doch in der Regierung sässen Leute, die andere Pläne hätten.

Bei vielen Kibbuzniks von Kfar Aza jedoch überwiegen heute Wut und Hass. Das Dorf galt, wie viele in der Region, bis vor einem Jahr als Hochburg der Friedensbewegung. Viele wählten, anders als der Grossteil des Landes, linke Parteien. Wenn Arje Tzuk über die Regierung wettert, bezeichnet der Expolizist deren Minister als ­«Faschisten»: «Der gefährlichste Gegner sitzt mitten unter uns», sagt er über die rechtsextremen Kabinettsmitglieder.

Doch mit Blick auf die palästinensischen Nachbar:innen ist seit Oktober etwas zerbrochen. «Wenn früher unser Haus bebte, wenn die Armee Gaza beschoss, dachte ich: Wie schrecklich muss es für die Menschen dort erst sein.» Heute ertappe er sich beim Gedanken: «Schade, dass sie keine grösseren Bomben werfen.» Seine Frau Ilana fuhr früher als Freiwillige für die Organisation Road to Recovery Palästinenser:innen aus Gaza zur Behandlung in israelische Spitäler. Im vergangenen Oktober ist sie aus der Organisation ausgetreten.

Die Beziehung von Kfar Aza, was übersetzt «Dorf Gaza» bedeutet, zu seinen palästinensischen Nachbar:innen war schon immer widersprüchlich. Wie viele der Kibbuzim in der Region entstand Kfar Aza in den fünfziger Jahren als bewaffnete Landwirtschaftssiedlung. Die Bewohner:innen sollten das Land bestellen und die Grenzen des neuen Staates verteidigen. In diesem Fall auch gegen Angriffe aus dem Gazastreifen, wo Hunderttausende 1948 aus dem heutigen Israel vertriebene Palästinenser:innen in Flüchtlingslagern lebten. Die ersten Kibbuzniks waren selbst Vertriebene, Jüdinnen und Juden aus Marokko und Ägypten.

Trotzdem gab es lange Zeit Beziehungen zwischen der Bevölkerung in Gaza und Kfar Aza, auch nach der israelischen Besetzung 1967. Die Kibbuzniks gingen zum Falafelessen nach Gaza-Stadt, Palästinenser:innen kamen zur Arbeit auf die Felder des Kibbuz. Die 1974 dort gegründete Plastikfabrik Kafrit belieferte auch Kund:innen in Gaza.

Zerrüttete Empathie

Die erste Intifada in den Achtzigern beendete die meisten Kontakte. An der Grenze wurde in den Neunzigern nach zunehmenden Selbstmordattentaten ein Zaun gebaut. Nach Beginn der zweiten Intifada und der Machtübernahme der Hamas 2007 kamen Raketenschutzräume hinzu. Trotzdem waren die Kibbuzim entlang der Grenze bis vergangenen Oktober einer der wenigen Orte in Israel, an denen noch ernsthaft über Frieden gesprochen wurde.

Vor dem Viertel der jungen Generation treffen Arje und Ilana Tzuk auf Rachel Stelman. Die Chefin des Notfallteams von Kfar Aza hat den 7. Oktober versteckt im hintersten Raum ihres Hauses überlebt. Von Kugeln durchlöcherte Türen, verkohlte Balken und von Granatsplittern gezeichnete Räume erzählen vom Massaker. «Das waren keine Aufständischen, die Soldaten angriffen», sagt Arje Tzuk. «Sie haben Zivilist:innen in ihren Betten getötet.»

Von hier fällt der Blick auf Dschabalija nördlich von Gaza-Stadt. In der flirrenden Mittagssonne wird deutlich, dass nach einem Jahr Krieg auch dort nur noch eine Trümmerwüste geblieben ist. Zertrümmert oder zumindest verwüstet ist auch die Empathie mancher Menschen aus Kfar Aza: «Es klingt brutal», sagt Rachel Stelman, «aber wenn ich dorthin schaue, denke ich, sie haben Gaza noch nicht genug zerstört.» Gleichzeitig wisse sie, dass mit Bomben nichts zu gewinnen sei. «Der einzige Weg ist, eine Vereinbarung zu finden.» Und wenn es am Ende nur ein kalter Frieden werde.