Durch den Monat mit Nora Hunziker (Teil 4) : Wie gehen Sie mit der Polizei um?

Nr. 21 –

Es gebe Polizist:innen, die schikanierten, aber auch solche, die pragmatisch unterwegs seien, sagt Gassenarbeiterin Nora Hunziker. Trotzdem erlebt sie viele Situationen, in denen es die Polizei gar nicht bräuchte.

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Nora Hunziker unterwegs auf einem Gehweg
Nora Hunziker: «Es kann helfen, dass eine Situation nicht eskaliert, wenn wir vor Ort sind.»   

WOZ: Nora Hunziker, in welchen Situationen braucht es die Polizei?

Nora Hunziker: Als Jugendliche hatte ich mal einen Streit mit meinem Grossvater, der eigentlich sehr links war und im Alter immer rechter geworden ist. Er meinte zum Beispiel, die Polizei solle gegen die Ausländer am Bahnhof vorgehen. Mal abgesehen davon, wie rassistisch die Aussage war, habe ich auch dagegengehalten, die Polizei sei scheisse. Im Nachhinein ist mir dann aufgegangen, dass es eine andere Ausgangslage ist: Ich bin jung, kräftig, kann mich wehren, habe im Notfall viele Leute, die ich anrufen kann und die mir sicher helfen würden. Das hatte mein Grossvater alles nicht. Wenn du nicht so viele Ressourcen hast, ist es vielleicht naheliegender, auf die Polizei zu vertrauen.

WOZ: Grundsätzlich müsste es aber nicht immer die Polizei sein, der man im Notfall vertraut.

Nora Hunziker: Natürlich, eigentlich könnten das andere Organe übernehmen. Schön wärs! Heute braucht es die Polizei in bedrohlichen Situationen, in denen man sich nicht selbst wehren kann. Häusliche Gewalt ist ein klassischer Fall: Auch wenn du zum Beispiel in deinem Wohnhaus selbstorganisiert dagegen vorgehen willst – wer bringt die gewalttätige Person dort weg? Wer gibt ihr ein Kontaktverbot?

WOZ: Und wo braucht es die Polizei nicht?

Nora Hunziker: Überall da, wo es um Ruhe und Ordnung geht. Und sowieso bei kleinen Delikten: Drogenbesitz, Kleindeal, Diebstähle. Eigentlich bei all den Straftaten, für die die Leute dann Ersatzfreiheitsstrafen absitzen müssen … Da liegt das Problem aber auch bei der Staatsanwaltschaft.

WOZ: Erleben das Ihre Klient:innen oft?

Nora Hunziker: Ja. Sie werden weggewiesen und kommen dann wieder, denn was willst du sonst – du lebst eben draussen. Oder sie fahren im ÖV ohne Billett. Oder konsumieren Kokain. Dann erhältst du eine Ordnungsbusse, kannst sie nicht bezahlen und landest im Knast, zusammen mit all den anderen, die nichts Schlimmes gemacht haben, also niemanden ausgeraubt, keine sexuelle Gewalt ausgeübt, bloss irgendein Kleinstdelikt. Es kostet viel, es bringt nichts, es gibt keinen sogenannten Lerneffekt – wie sollte es auch? Du kommst ja nicht raus und hast wie durch ein Wunder eine Suchtbehandlung durchlaufen oder plötzlich viel Geld oder ein GA.

WOZ: Haben Sie in Ihrem Alltag viel mit der Polizei zu tun?

Nora Hunziker: Wir treffen uns einmal im Jahr zum Austausch. Und wir begegnen uns auf der Strasse. Es kann helfen, dass eine Situation nicht eskaliert, wenn wir vor Ort sind. Unsere Klient:innen haben oft viel Polizeierfahrung, auch mit Einsätzen, bei denen Kompetenzen überschritten werden.

WOZ: In welchem Zusammenhang?

Nora Hunziker: Zum Beispiel, wenn sie beim Betteln weggewiesen werden, obwohl sie eigentlich betteln dürfen. Etwas, das zum Glück wieder abgenommen hat: Wenn Leute etwa wegen Drogenbesitz kontrolliert werden, darf die Polizei ihnen Geld abnehmen, wenn sie welches dabeihaben – sozusagen als Vorschussbusse. Ausser es ist Sozialhilfegeld. Das wurde aber nicht eingehalten. Wir mussten der Polizei immer wieder erklären, dass Fürsorgegelder nicht pfändbar sind … Oder People of Color, die schikaniert werden, weil sie sich angeblich an einem Platz aufhalten, von dem sie weggewiesen wurden – und dann stellt sich heraus, dass die Polizei sie einfach verwechselt hat.

WOZ: Haben Sie in solchen Fällen Spielraum, um einzugreifen?

Nora Hunziker: Nur beschränkt. Du musst dir von der Polizei eine Wegweisung schriftlich ausstellen lassen, damit du im Nachhinein dagegen vorgehen kannst. Das fordern viele verständlicherweise nicht ein. Und dann ist es sehr aufwendig, dagegen vorzugehen. Wenn die Leute aber wollen, begleiten wir sie dabei. Die Gespräche mit der Polizei helfen auf jeden Fall. Wir machen die Erfahrung, dass es Polizist:innen gibt, die schikanieren – aber auch solche, die ziemlich pragmatisch unterwegs sind. Und die auch Wert auf unsere Erfahrung legen.

WOZ: Wie halten Sie es mit dem städtischen Dienst Pinto (Prävention, Intervention, Toleranz)?

Nora Hunziker: Ich habe grosse Kritik an Ideen wie Pinto oder SIP in Zürich, auch wenn es in einzelnen Fällen gut ist, dass es sie gibt: Sie sind uniformiert und damit erkennbar, das sind wir auf der Strasse nicht. Die Pinto hat das Ordnungspolitische seit einer Weile nicht mehr offiziell im Konzept, arbeitet aber allparteilich. Das geht für mich in dieselbe Richtung: Du kannst nicht für eine Partei da sein, wenn du es allen anderen auch recht machen willst. Vor allem nicht, wenn eine Partei sehr viel prekärer ist als die anderen. Unsere Grundhaltung ist deshalb klar anwaltschaftlich für unsere Klient:innen. Viele Menschen haben Mühe, sich zu öffnen, auch uns gegenüber. Zum Beispiel solche, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren und die deshalb gegenüber dem Staat ein Grundmisstrauen haben. Die erreichst du nicht mit einer Stelle wie Pinto, die theoretisch noch andere Leute dazuholen könnte, im schlimmsten Fall die Polizei.

Nora Hunziker (32) arbeitet als Sozialarbeiterin bei der Kirchlichen Gassenarbeit in Bern. Nächste Woche spricht sie über den öffentlichen Raum, wer ihn nutzt – und wer ihn kontrolliert.