Durch den Monat mit Nora Hunziker (Teil 1): Warum können Sie die Berner Sozialpolitik nicht ernst nehmen?
Die rot-grünen Stadtplaner:innen übersähen die Lebensrealitäten von prekär lebenden Menschen, sagt die Berner Gassenarbeiterin Nora Hunziker. Sie wünscht sich, dass man jenen mehr zuhört, die wenig Geld haben.

WOZ: Nora Hunziker, wo stehen wir gerade?
Nora Hunziker: Grundsätzlich würde ich sagen: Nicht an einem guten Punkt. Überall, wo es um Menschen geht, sieht es nicht gut aus – Femizide, Arbeiter:innenrechte, Rechte von armen Menschen in der Schweiz … Es ist schon beschissen.
WOZ: Beschissener als früher?
Nora Hunziker: Das eher nicht. Aber ich finde es auch schwierig, das abzuschätzen, weil es bei mir selbst stimmungsmässig auch immer abwechselt, wie optimistisch ich gerade bin. Je nachdem ist das auch ziemlich zyklusabhängig.
WOZ: Wo bestehen im Moment Handlungsräume?
Nora Hunziker: Für mich derzeit vor allem ausserhalb der Parlamente. Auf gewerkschaftlichem Weg, wo sich Menschen zusammenschliessen, die zum Beispiel im gleichen Beruf arbeiten, die gleichen Probleme haben und dann gemeinsam etwas dagegen unternehmen. Da spüre ich mehr als anderswo, dass wir die Möglichkeit haben, etwas zu gewinnen. Aber auch bei sozialen Bewegungen wie dem feministischen Streik. Bei der Gassenarbeit merken wir ausserdem, wie viel über die sozialen Medien läuft. Wenn wir uns dort über etwas aufregen, reagieren oft viele Leute, die Medien nehmen es manchmal auf. Forderungen, die wir dort zum ersten Mal gestellt haben, wie etwa nach einer Notschlafstelle für Finta-Personen, finden Eingang in die Politik. Das sind für mich Handlungsräume: Orte, wo man etwas gewinnen kann.
WOZ: Sie sind seit bald sieben Jahren Gassenarbeiterin in der Stadt Bern. Wie schätzen Sie die Situation dort ein?
Nora Hunziker: Ich habe Mühe damit, wie sich die Stadt Bern immer als rot-grünes Paradies darstellt, es aber zum Beispiel kaum mehr möglich ist, für meine Klient:innen bezahlbare Wohnungen zu finden. Oder wie man ein Quartier wie den Breitenrain einfach so krass aufwerten kann, ohne sich zu überlegen, was das für arme Menschen und Menschen in prekären Lebenssituationen bedeutet. Aber mit diesen spricht ja auch kaum jemand; deren Lebensrealitäten finden keinen Eingang in die rot-grüne Stadtplanung. Wenn ich mit Politiker:innen zu tun habe, derzeit etwa bei der Planung der Finta-Notschlafstelle, kommen immer dieselben Worthülsen: «soziale Stadt», «gerechte Stadt». Aber das heisst für die etwas völlig anderes, wenn sie selbst in teuren Wohnungen leben, zwei Autos oder E-Bikes haben, noch ein Ferienhaus an der Lenk. Oft bleibt es dann sowieso beim Performativen.
WOZ: Was meinen Sie damit?
Nora Hunziker: Im sozialen Bereich scheint in der Stadtpolitik zu gelten: Hauptsache, man hat irgendwas gemacht, das man sich in den Leistungsausweis schreiben kann und das nach aussen gut aussieht. Egal ob es den Leuten wirklich etwas bringt. Wir fordern seit Jahren, dass wissenschaftlich evaluiert wird, wie die öffentlichen Plätze in Bern genutzt werden. Zum Beispiel die Schützenmatte im Zentrum der Stadt: Gerade wird sehr viel über die Gewalt dort gesprochen, aber weiss denn irgendwer, was genau los ist? Wieso lässt man nicht herausfinden, wer sich wieso überhaupt dort aufhält, was diese Leute wollen und brauchen? Aufbauend darauf könnte man Massnahmen ergreifen, die tatsächlich etwas nützen. Die derzeitige Handhabung auf der Schützenmatte ist ein direkter Angriff auf drogenkonsumierende, dealende und prekär lebende Menschen. Man will die Leute, die stören, weghaben. Und jene, die nicht stören, aber trotzdem prekär leben, gehen daneben einfach unter.
WOZ: Aber es ist doch die Kantonspolizei, die auf der Schützenmatte gegen Dealende und Konsumierende vorgeht. Hat die Stadt da überhaupt Einfluss?
Nora Hunziker: Die Stadt kann der Kantonspolizei Aufträge für Schwerpunkte geben, sie könnte also eingreifen in die Art und Weise, wie die Polizei mit den Leuten dort umgeht. Aber es passt zur Politik der sauberen Stadt, die in Bern seit Jahren verfolgt wird. Dazu gehören etwa bauliche Massnahmen, also zum Beispiel unter dem Baldachin beim Hauptbahnhof die Sitzbänke zu entfernen. Oder die Warnungen vor «Bettelbanden» aus Osteuropa – so rassistisch und so armenfeindlich, aber Hauptsache, «Bettler*innen» wird in der Medienmitteilung gegendert …
WOZ: Was könnte eine Stadt wie Bern aus Ihrer Sicht denn tun, damit es besser wird?
Nora Hunziker: Es ist natürlich utopisch zu glauben, Bern könnte ein Ort sein, der im Gegensatz zu allen anderen einfach super ist. Aber es gäbe tausend Dinge, ich kann das gar nicht alles aufzählen. Eine Stadt wie Bern könnte sich etwa entscheiden, bei der Sozialhilfe die Leute weniger zu kontrollieren, mehr auszuzahlen, damit die Leute über mehr Geld selbst entscheiden könnten. Sie könnte Wohnungen kaufen und selbst verwalten. Sie könnte der Polizei andere Aufträge geben. Und ganz grundsätzlich: nicht nur denen zuhören, die Geld haben.
WOZ: Mit welchem Gefühl gehen Sie dieses Jahr in den 1. Mai?
Nora Hunziker: Ich denke, im Moment passiert am 1. Mai nicht viel Veränderung. Leider. Aber ich habe kürzlich etwas Gutes gehört, das mir seither hilft. Und zwar, dass ich gar keine Hoffnung haben muss. Ich kann auch aus Trotz immer weitermachen.
Nora Hunziker (32) ist Gassenarbeiterin in Bern. Und verbringt den 1. Mai am liebsten in Zürich, weil sie dort am ehesten das Gefühl hat, dass «wir viele sind».