Durch den Monat mit Nora Hunziker (Teil 3) : Warum gibt es beim Drogenkonsum ein Armenminus?

Nr. 20 –

Gassenarbeiterin Nora Hunziker hält nichts von der Repression gegen Konsumierende. Wenn, dann wären im Gegensatz zu ihren Klient:innen koksende Männergruppen in Anzügen wenigstens in der Lage, die Bussen zu bezahlen.

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Nora Hunziker sitzt auf einem Betonstein
«Es ist zum Beispiel super, dass es Teststellen gibt, aber es ist schon etwas, das eher ­privilegierte Kon­su­ment:in­nen nutzen»: Nora Hunziker.

WOZ: Nora Hunziker, welche Drogen sind im Moment im Umlauf?

Nora Hunziker: Immer ein bisschen von allem. Es hängt davon ab, welche Lieferung gerade reinkommt, welche Qualität welcher Stoff hat. Sicher Heroin und Kokain. Seit einem Jahr verteilen wir wieder mehr Spritzen, es ist also mehr Heroin im Umlauf. Dann Benzos und anderes, was die Leute verschrieben bekommen, etwa ADHS-Medikamente wie Focalin und Ritalin, Valium und andere Beruhigungs- und Schlafmedikamente … Alkohol natürlich, der ist am weitesten verbreitet. Ach ja, und Gras, aber das ist ja wirklich ein bisschen egal.

WOZ: Wie sieht es mit dem in den USA weitverbreiteten Opioid Fentanyl aus?

Nora Hunziker: Es gab in der Schweiz noch keinen Ausbruch. Man weiss von anderen Städten weltweit: Wenn es kommt, dann flutet es die Szene, und es wird verdammt gefährlich. Wir sind daran, von der Stadt zu erfahren, wie man das monitoren kann: Was machen wir, wenn es plötzlich ausbricht? Sind wir parat? Es gibt noch einiges zu tun. Zentral ist, dass wir dann wirklich alle Konsument:innen erreichen.

WOZ: Wie konsumieren Ihre Klient:innen?

Nora Hunziker: Es gibt schon eine gewisse Gruppe, die einfach konsumiert, was da ist. Aber es gibt auch solche, die sehr bewusst konsumieren. Und jene, die ewig nicht mehr da waren und nach einem Schicksalsschlag sofort wieder zurück in den Drogen sind. Und es gibt viele, die sich nach Feierabend in Büezerkleidung Stoff besorgen. Darüber wird vielleicht deshalb nicht so viel gesprochen, weil vordergründig alles in Ordnung ist, solange die Leute in ihrer Lohnarbeit funktionieren. Es gibt beim Drogenkonsum ein grosses Armenminus.

WOZ: Wie meinen Sie das?

Nora Hunziker: Einerseits ist es bei prekären Konsument:innen nicht so ein Thema, die Drogen vor dem Konsum zu testen. Sie nehmen, was sie bekommen, und können sich in der Regel nur kleine Mengen leisten, die sie direkt konsumieren. Man ist im Beschaffungsstress, hat vielleicht ein paar Stunden gewartet, bis der Dealer kommt … Und wenn man dann Fentanyl kriegt statt Heroin – das ist extrem gefährlich. Es ist super, dass es die Teststellen gibt, aber es ist schon etwas, das eher privilegierte Konsument:innen nutzen, die sich etwa Amphetamin fürs Ausgehen am Wochenende kaufen.

WOZ: Und andererseits?

Nora Hunziker: Da geht es ums Ordnungspolitische, also darum, wie unterschiedlich mit verschiedenen Konsumierenden umgegangen wird. Unsere Klient:innen werden dauernd von der Polizei gebüsst, weil sie Kokain dabeihaben, können die Bussen nicht bezahlen und müssen ins Gefängnis. Was ist mit den koksenden Männergruppen in Anzügen, die am Wochenende durch die Aarbergergasse pöbeln? Ich finde grundsätzlich nicht, dass man gegen Konsument:innen vorgehen sollte, aber die hätten immerhin das Geld, um die Bussen zu bezahlen. Kürzlich habe ich diesbezüglich selbst eine Situation erlebt, die mir nahegegangen ist.

WOZ: Was ist da passiert?

Nora Hunziker: Ich sass im «Casa Marcello», einer auch bei unseren Klient:innen beliebten Beiz. Neben mir zerkleinern sie zu zweit eine Zehn-Milligramm-Pille Focalin, um sie durch die Nase zu ziehen, während ich dasitze mit zwanzig Milligramm intus, weil ich das gegen mein ADHS verschrieben bekommen habe. Was ich mache, ist legal, was sie machen, illegal. Das kommt mir manchmal schon absurd vor: Wir sitzen am gleichen Tisch und trotzdem in einer komplett anderen Welt.

WOZ: Konsumieren alle Ihre Klient:innen?

Nora Hunziker: Nein. Es kommt darauf an, ob wir auf der Gasse unterwegs sind oder ob die Leute ins Büro kommen – auf der Gasse konsumieren die meisten. Ins Büro kommen viele, die nicht oder nicht mehr konsumieren. Das liegt auch daran, dass es auf der Gasse ziemlich hart ist, wenn du einen Entzug gemacht hast und alle, die du kennst, immer noch konsumieren. Das habe ich oft erlebt: Die Leute kommen aus dem Entzug und sehen super aus, haben Pläne. Aber dann, was machst du? Du wohnst immer noch im gleichen Haus, in dem alle konsumieren, wo immer noch jemand in der Nacht Steinchen an dein Fenster schmeisst und was kaufen will. Je nachdem hast du nach dem Entzug auch dein Trauma immer noch, nur dass du dich jetzt wieder dran erinnerst. Das ist sicher etwas, das sich in der Suchtbehandlung ändern müsste: Es müsste viel mehr investiert werden in die Zeit nach dem Entzug.

WOZ: Was müsste sich sonst noch ändern?

Nora Hunziker: Es bräuchte ganz sicher eine Entkriminalisierung des Konsums, wohl auch allgemein von Drogen. Der Repressionsstress hilft niemandem und trifft sowieso nur einen bestimmten Teil der Gesellschaft. Es bräuchte viel mehr Prävention und Schadensminderung: Die Psychiatrie, die soziale Arbeit und die Pflege müssten ausgebaut werden. Dann könnte man mehr Zeit darin investieren, die Leute wirklich kennenzulernen und zu schauen, was hinter der Sucht steckt. Ausserdem Prävention an den Schulen, mehr Aufklärung bei den Kids, die oft sehr schlecht informiert sind, aber auch bei den Eltern. Und dann denke ich, dass gerade in unseren Kreisen ein umsichtigerer Umgang gut wäre: Kokain, Amphetamin und allgemein Partydrogen werden zum Teil ziemlich verharmlost.

Nora Hunziker (32) ist Gassenarbeiterin in Bern. Nächste Woche erzählt sie von der Polizei.