Guinea-Bissau: Das Paradox der Cashews

Nr. 48 –

Im westafrikanischen Land Guinea-Bissau hängt die Wirtschaft von der Cashewnuss ab. Während sie in die Welt exportiert wird, bleiben die Gewinne anderswo hängen.

eine Hand hält einen Cashewapfel
Cashewnüsse sind keine Nüsse, sondern Kerne des Cashewapfels.
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Heute ist ein wichtiger Tag für João Quadé. Frisch rasiert, auf dem Kopf einen Anglerhut, steigt er in seinen rostigen Toyota-Pick-up, schlägt die Tür zu und versucht, den Motor zu starten. Es ist frühmorgens in Safim, einer Kleinstadt nördlich der Hauptstadt von Guinea-Bissau. In der kleinen Fabrik nebenan, vor der ein paar Hühner und eine Ziege lange Schatten werfen, sortieren die Arbeiterinnen schon seit den frühen Morgenstunden kleine Hügel von Cashewkernen, die zuvor geknackt und vorgeröstet wurden, in drei Kategorien: Premium, Bruchware und Tierfutter. Die Premiumnüsse sind für die Supermarktregale in der ganzen Welt bestimmt. Solange der Vorrat reicht. Und an diesem Morgen im Februar, zwei Monate bevor die Ernte beginnt, reicht er nur noch bis zum Ende der Woche.

Quadé dreht den Zündschlüssel um. Der Motor gluckst. Dann wird es still. Wenn der Wagen nicht anspringt, muss er die Arbeiterinnen bald nach Hause schicken.

Die Cashewnuss hält Guinea-Bissau am Leben. Wie ein Aderwerk ziehen sich die Lieferketten vom kleinen Land über den gesamten Planeten. Cashews – die eigentlich keine Nüsse, sondern die Kerne des Cashewapfels sind – machen neunzig Prozent der Exporte aus. Acht von zehn Menschen im Land haben etwas mit Cashews zu tun. Das Land produziert bis zu 200 000 Tonnen im Jahr. Damit gehört Guinea-Bissau, ein Kleinstaat an der westafrikanischen Küste zwischen dem Senegal und Guinea, zu den führenden Cashewexporteuren weltweit.

reifende Cashewfrüchte in Nhacra
Geerntet wird mithilfe von Stöcken: Reifende Cashewfrüchte in Nhacra.

Der Preis einer Monokultur

An der Geschichte der Cashewnuss in Guinea-Bissau lässt sich erkennen, was passiert, wenn das Schicksal von über zwei Millionen Menschen von einem Baum abhängt. Wo bis Mitte der achtziger Jahre noch Reis oder Bohnen angebaut wurden, wachsen heute Cashewbäume. Das hat zu grosser Abhängigkeit von Rohstoffen aus dem Ausland geführt. Der grösste Abnehmer der Cashewnüsse ist Indien, wo sie weiterverarbeitet und geröstet werden, bevor sie in Supermarktregalen in Europa landen.

Nur drei Prozent der Cashews werden im Land selbst verarbeitet. Der 59-jährige Cashewhändler Quadé ist einer von wenigen im Land, die die Rohnüsse auch vor Ort schälen, rösten und verpacken. Ein Geschäft, das ihm allerdings ausserhalb der Erntezeit fast unmöglich ist. Denn die meisten Cashewnüsse verlassen das Land schon kurz nach der Ernte, die meist einmal im Jahr – je nach Region – zwischen April und August stattfindet. «Wenn ich heute keinen Nachschub bekomme, kann ich nächste Woche dichtmachen», sagt der Händler.

Wahlen in Guinea-Bissau

Am Sonntag fanden in Guinea-Bissau, dessen Geschichte durchzogen ist von Militärputschs und interimistischen Regierungen, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Die Resultate dürften am Erscheinungstag dieser Zeitung vorliegen. Die jahrzehntelang dominante Partei, der notorisch zerstrittene PAIGC, stand erstmals nicht auf dem Wahlzettel, offiziell wegen einer Formalität. Kritiker:innen gehen davon aus, dass Präsident Umara Sissoco Embaló – einst selber PAIGC-Politiker – verhindern wollte, dass die Partei zum Zug kommt. Seit er im Frühjahr 2022 einen Putschversuch überlebte, hat er Oppositionelle verhaften lassen und regierungskritische Journalist:innen unter Druck gesetzt.

Dennoch gelang es dem sozialliberalen Herausforderer Fernando Dias da Costa, grössere Massen zu mobilisieren. Und sollte Embaló die Wiederwahl zwar schaffen, die Opposition aber eine Mehrheit in der einzigen Parlamentskammer gewinnen, droht eine Situation wie vor zwei Jahren: Damals löste Embaló das Parlament kurzerhand auf.

Die Cashewkerne stammen aus allen Teilen des Landes – von Vorgärten in der Hauptstadt bis zu Mangroven an Flüssen tief im Landesinneren. Selbst viele Schulkinder hacken mit Macheten das Unterholz der Plantagen weg, um diese für die Ernte vorzubereiten. Jedes Jahr schwanken die Erträge aufgrund von Regenfällen, des Alters der Bäume, Parasitenbefall und der Anzahl der Arbeiter:innen, die die Kerne sammeln.

Die Cashewnuss, die roh an die Form eines kleinen, beigen Boxhandschuhs erinnert, der an einem bis zu fünfmal so grossen Fruchtknoten hängt, wurde in den letzten Jahren vor allem in Europa zu einem Star der Lebensmittelindustrie: Sie fehlt in kaum einem Müesli, aus ihr wird glutenfreies Cashewmehl gemahlen oder Käse fermentiert. Einmal geknackt, ist sie süsser als eine Erdnuss und buttrig, ohne weich zu sein. «Ein bisschen wie ein Keks», sagt Quadé, der seit elf Jahren seine kleine Fabrik Quadé & Quadé betreibt, für die mehr als dreissig Menschen arbeiten.

Schnelle Gewinne

An diesem Januarmorgen im Auto weiss Quadé noch nicht, dass die Nachfrage nach der Cashewnuss schon im ersten Viertel dieses Jahres in Europa Rekordzahlen erreichen wird. In Guinea-Bissau ist dies die Zeit, in der es für die Menschen immer schwieriger wird, zu Hause die Vorräte aufzustocken, da die Ersparnisse aus der letzten Ernte aufgebraucht sind. Diese Übergangsphase von der Trocken- zur Regenzeit sei in Guinea-Bissau Hochsaison, erzählt Quadé.

Während der Erntezeit bedeuten Cashewverkäufe, dass Essen auf den Tisch kommt – Polizeiautos bekommen neue Reifen; Lehrer und Krankenpflegerinnen, die oft monatelang auf ihren Lohn warten, erhalten endlich ihr Gehalt. Und dazwischen? «Warten alle auf die Nuss.» Wenn der Verkauf ins Stocken gerät, wie während der Covid-Pandemie oder nach dem letzten Putschversuch der Nationalgarde im Jahr 2023, sind die Folgen schnell spürbar. Da fast achtzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten, kann eine schlechte Saison das Land gefährlich nahe an eine Hungerkrise bringen.

Nervös dreht Quadé noch einmal den Schlüssel um. Er streckt sich in seinem Sitz, als könne er den Motor durch sein Gewicht beeinflussen. Der Toyota springt an. Langsam fährt Quadé auf die dreispurige Strasse, vorbei an breiten Verkehrsinseln, wo Schulkinder ihren Pano de pente, einen traditionellen, wärmenden Schal, um ihre Schultern schwingen. Die Morgenluft ist noch kühl. Ein Verkäufer bietet am Strassenrand frische Gurken an, ein paar Meter weiter brutzeln dicke kleine Pfannkuchen in der Fettpfanne aus Aluminium. Aber Quadé hat keine Zeit für ein Frühstück. Er ist auf dem Weg zu einem Lagerhaus in Bissau in der Nähe des Industriehafens, wo er hofft, einen Zwischenhändler zu treffen, der vielleicht noch etwas Cashew von der letzten Ernte hat. Als Mitte der achtziger Jahre in Guinea-Bissau der Cashewboom begann und Quadé noch ein junger Mann war, herrschte Optimismus. Der Cashewbaum versprach schnelle wirtschaftliche Gewinne. Er ist pflegeleichter als der traditionell angebaute Reis, benötigt wenig Wasser und liefert dennoch eine solide Ernte.

Paletten mit Reis-Säcken
Verdrängt von der Cashewnuss: Heute muss der Reis aus Ländern wie Pakistan nach Guinea-Bissau importiert werden.

Dicht an dicht pflanzten die Bäuer:innen die Bäume – auch weil der Staat ab 1984 Land an kommerzielle Landwirte, sogenannte Ponteiros, vergab. Wer schnell pflanzte, sicherte sich Land, was bis heute zu Landkonflikten führt. Doch damals wollte niemand etwas von den negativen Auswirkungen wissen. Quadé jedoch verstand später, dass ein Grossteil des Gewinns im Ausland anfällt, wenn die Nüsse nicht im Land verarbeitet werden.

Die Verarbeitung ist nicht einfach: Der Kern der Cashewnuss ist von einer harten grünen Schale umgeben, die giftiges Cardol enthält, das die Hände verbrennen kann. Die Nüsse werden darum zunächst in einem länglichen Ofen vor der Tür von Quadés Fabrik mit Dampf erhitzt, wodurch sich die Schale löst. Quadé exportiert jährlich etwa tausend Tonnen. Damit ist er ein mittelgrosser Händler im Land.

Doch auch João Quadé steckt im Cashewdilemma – genau wie der Rest von Guinea-Bissau. Für einige war die Cashewnuss ein Segen: ein schneller Weg zum Gewinn. Für andere war sie ein Fluch. Das gesamte Ernährungssystem des Landes verlagerte sich weg vom traditionellen Anbau von Reis – dem Hauptnahrungsmittel, von dem sich ein Grossteil der Bevölkerung ernährt – hin zu Cashewnüssen. Heute kommt der grösste Teil des Reises aus Pakistan, China und Indien – den Ländern, in die Guinea-Bissau Cashewnüsse zur Verarbeitung exportiert. Wenn die Cashewpreise sinken, fehlt den Bäuer:innen oft das Geld, um Reis für ihre Familien zu kaufen. 2022, am Ende der Covid-Pandemie, als die Preise unter dem von der Regierung festgelegten Niveau blieben, brachte ein Kilo Cashewnüsse laut einem Bauern manchmal nur hundert CFA-Francs ein, etwa fünfzehn Rappen. Im letzten Jahr war der von der Regierung festgelegte Grundpreis viermal so hoch.

Cashews raus, Reis rein

Es gibt einige, die ihr Leben zwischen Stadt und Landwirtschaft aufbauen. Etwa Epifanio Quintino Alberto Carlos. Jeden Freitag nach den Vorlesungen an der Universität nimmt der 22-Jährige den Bus in Bissau und fährt zwei Stunden nach Nhacra, einer Kleinstadt im Westen des Landes, zur Plantage seines Onkels. Seit seiner Kindheit kennt Carlos die Bäume, die sich wie offene Regenschirme bis zum Horizont erstrecken. Die meisten wurden 1977 gepflanzt. In ein paar Jahren wird Carlos die Plantage übernehmen, die mit vierzig Hektaren zu den grösseren des Landes gehört.

Aufrecht und mit schwingenden Händen läuft der schlaksige Mann durch die grosse Cashewplantage. Die Grenzen der Parzellen sind nicht zu erkennen, so dicht gepflanzt stehen die Bäume. Nur vereinzelt fallen einige Sonnenstrahlen auf den Boden. Bei jedem Schritt von Carlos rascheln die Blätter so laut, dass er erst wieder spricht, wenn er stehen bleibt. Das Problem: Die Blätter versiegeln den Boden ringsum, entziehen ihm Nährstoffe und verhindern, dass andere Bäume oder Gemüse gut wachsen können.

Bäume in der Cashew-Plantage
Die meisten Bäume wurden schon 1977 gepflanzt: Die Plantage von Epifanio Quintino Alberto Carlos’ Onkel in Nhacra.

An diesem Samstag ist Carlos schon um 6 Uhr dabei, das Unterholz mit einer Machete wegzuschneiden, damit der Wind durch das dichte Holz wehen kann. Leise, damit sein Onkel ihn nicht hört, gibt er zu, dass er davon träumt, im Ausland zu studieren, wo er nicht jedes Wochenende auf die Felder fahren müsste.

Camlesh Ramchande ist einer, den der Cashewnusshandel wohlhabend gemacht hat. Den Mann mit breitem Lächeln und ausladenden Schritten kennt hier jede:r unter dem Namen «Jimy» – von der Präsidentenresidenz, wie er selbst sagt, bis zur kulinarischen Szene in der Hauptstadt Bissau. Es ist kurz vor Feierabend, als der 57-Jährige im beigen Leinenanzug mit seinem SUV auf den Parkplatz der Lagerhalle seines Unternehmens CR Trading SARL einbiegt. Am Rand der Halle duschen sich ein paar Arbeiter in der Abendsonne mit zwei Eimern Wasser. Über siebzig Menschen arbeiteten in dieser Lagerhalle, sagt Ramchande. Mit hallenden Schritten läuft der Geschäftsmann die riesigen Hallen ab, grüsst seinen Lagerhallenleiter aus Singapur mit einem kräftigen Handschlag und deutet hinauf zu den Stapeln von roten Reissäcken aus Pakistan, die sich acht Meter hoch bis unter das Dach türmen. «Um die 17 500 Tonnen sind seit der letzten Lieferung eingelagert», sagt er.

Es ist kaum vorstellbar, wie sich der Bestand bis in wenigen Wochen wieder abbauen soll. Doch spätestens im April, wenn die neue Cashewernte beginnt, darf kein Reissack mehr in der Halle zu finden sein. Dann werden sich hier Säcke voller Cashewnüsse stapeln, die er wiederum in Richtung Asien schickt. «Dieses Land hat mir viel Glück gebracht», sagt er. Der Geschäftsmann mit Eltern aus Indien, einer Familie in London und einem Wohnsitz in Bissau ist einer der erfolgreichsten Grosshändler im Land. Seit achtzehn Jahren lebt er schon hier. Doch auch er weiss, dass sich die Situation jederzeit ändern kann.

Anfang der nuller Jahre, als er als junger Geschäftsmann zum ersten Mal von Lissabon nach Bissau reiste, investierte er zusammen mit einem Freund noch in portugiesischen Wein und Erfrischungsgetränke. Dann stieg er ins Cashew- und Reisgeschäft ein: Im letzten Jahr importierte Ramchande nach eigenen Angaben 60 000 Tonnen Reis. Damit ist er auch einer der grössten Reisimporteure des Landes.

Mehr Fokus auf die Landwirtschaft

In Guinea-Bissau fehlt es an politischer Stabilität. Seit der Unabhängigkeit von Portugal 1974 hat das Land keine reguläre Amtszeit eines gewählten Präsidenten erlebt. Militärputsche wie vor zwei Jahren gehören zum politischen Alltag. Aktuell konzentriert sich die politische Führung vor allem darauf, ihre Macht zu sichern. Obwohl die Amtszeit von Präsident Umaro Sissoco Embaló offiziell am 27. Februar 2025 endete, blieb er im Amt und kündigte an, sich bei den Präsidentschaftswahlen am 23. November 2025 erneut zur Wahl zu stellen (vgl. «Wahlen in Guinea-Bissau»).

Solche Ereignisse führen dazu, dass internationale Geldgeber ihre Hilfen aussetzen und Investor:innen sich zurückziehen. Die Bevölkerung bleibt dadurch oft auf sich allein gestellt.

Die Folgen der ungerechten Macht- und Gewinnverteilung rund um die Cashewnuss kennt auch Tumane Nhadu Camara, Fakultätsdirektor für Landwirtschaft an der Amílcar-Cabral-Universität in Bissau. Seit vier Jahrzehnten forscht der Wissenschaftler zur Landwirtschaft von Guinea-Bissau. Licht fällt durch die grossen Bäume im Innenhof der Universität, auf dem ein paar Studenten nach der Vorlesung Fussball spielen. Die öffentliche Hochschule in Guinea-Bissau wurde im Dezember 1999 gegründet und ist nach dem bedeutenden Führer der Unabhängigkeitsbewegung des Landes in den siebziger Jahren benannt. In Bissau erinnern Statuen und Street-Art an ihn. Cabral setzte sich für die Unabhängigkeit von Guinea-Bissau und Kap Verde von der portugiesischen Kolonialherrschaft und für die wirtschaftliche und landwirtschaftliche Entwicklung ein. «Wenn Cabral von den Toten auferstehen und das Land sehen würde, würde er wieder sterben», sagt Camara. Seinen Humor hat er noch nicht verloren. Doch für ihn ist klar, dass dem Land eine unsichere Zukunft bevorsteht, wenn die Landwirtschaft nicht radikal umgestellt wird.

Cashewhändler João Quadé vor einer Lagerhalle
«Wenn ich heute keinen Nachschub bekomme, kann ich nächste Woche dichtmachen»: Cashewhändler João Quadé ist einer von wenigen im Land, die die Rohnüsse auch vor Ort schälen, rösten und verpacken.

Dabei liege die Lösung auf der Hand: Die Banken müssten Fabriken wie jene von João Quadé mit Krediten unterstützen, damit sich die Produktion der Cashewnuss von den internationalen Lieferketten unabhängig machen könne. Gleichzeitig müsste die Regierung in die Umstrukturierung der Landwirtschaft investieren: Es brauche mehr Lagerhallen, mehr Maschinen und Förderungen für die Bäuer:innen, um auch die Jugend wieder für die Branche begeistern zu können. «Das Landwirtschaftsministerium hat das niedrigste Budget in der öffentlichen Verwaltung», so Camara. «Im Staatshaushalt sind etwa 1,5 bis 2 Prozent dafür vorgesehen, obwohl die Landwirtschaft für mehr als 80 Prozent der Beschäftigung im Land verantwortlich ist.» Die Landwirtschaft müsse wieder zum Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik werden. Denn auch Institutionen wie das Nationale Institut für Agrarforschung haben derzeit keine Kapazität, um die Verarbeitung der Cashewnuss vor Ort weiterzubringen.

Auch den Reisanbau möchte Camara fördern: Die Menschen im ganzen Land könnten wie früher damit versorgt werden. Doch dafür brauche es politischen Willen. «Läuft es so weiter, rutscht auch die kleine Mittelschicht in den nächsten zehn Jahren in die Armut», sagt er.

eine Mitarbeiterin sortiert Cashewnüsse
In drei Qualitätsstufen: Eine Mitarbeiterin von João Quadé sortiert Cashewnüsse für den Export. 

Die Nuss fehlt

Es ist Mittag, als João Quadé vor den hellblauen Türen einer weiteren Lagerhalle in Bissau parkt. Der erste Zwischenhändler hatte ihm nicht nur schlechte Nüsse gebracht, sondern war auch eine halbe Stunde zu spät gekommen. Als Quadé dann endlich eine rohe Nuss mit einer Handzange knackte, sah er schnell, dass das schwarze Öl der Schale schon bis auf den Kern durchgesickert war: schlecht gelagerte Ware. Wie so oft, wenn das Equipment dazu fehlt.

Quadé quittierte die Qualität mit einem dröhnenden Schweigen. Der Zwischenhändler fuhr mürrisch ab. Doch Quadé hatte noch eine zweite Händlernummer in seinem Telefon und startete wieder den Motor.

Bei der nächsten Halle angekommen, kippt Quadé den Fahrersitz ein wenig nach hinten und schliesst kurz die Augen. Als eine Gruppe Frauen in der Mittagshitze mit Körben auf dem Kopf an seiner Fahrertür vorbeiäuft, setzt er sich schnell auf und lehnt sich aus dem Fenster: «Kennt ihr jemanden, der Cashewnüsse zu verkaufen hat?» Sie schütteln lachend den Kopf. Und Quadé weiss, dass er an diesem Tag keine Cashews mehr in die Fabrik bringen wird.

Einige Tage später erzählt er am Telefon von einer überraschenden Wendung. Ein Händler hat ihm an der Grenze zum Senegal 421 Kilo Cashewnüsse verkauft. So kann er die Arbeiter:innen in seiner Fabrik noch eine Woche lang weiterbeschäftigen. Danach beginnt das Warten auf die neue Ernte.

Diese Recherche entstand mit Unterstützung des Medienfonds Real21 und der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst.

Agrarhandel: «Ernährungssouveränität wäre eine gute Alternative»

WOZ: Tina Goethe, Guinea-Bissau ist wirtschaftlich abhängig vom Export von Cashewnüssen und importiert einen grossen Teil der Grundnahrungsmittel. Ist das Land ein Einzelfall?

Tina Goethe: Überhaupt nicht. In Ghana oder Côte d’Ivoire gibt es eine vergleichbare Abhängigkeit vom Kakao, in Mittelamerika von Bananen. Die Konzentration auf sogenannte «cash crops» ist ein auf kolonialer Ausbeutung basierendes Entwicklungsmodell, zu dem ab den achtziger Jahren viele Länder erneut gedrängt wurden, unter anderem von der Weltbank – um Devisen zu erwirtschaften und Schulden zu begleichen. Die Grundnahrungsmittel sollten sie aus den Industrieländern importieren. Diese können dank hoher Agrarsubventionen günstig exportieren.

Welche Folgen hat dieses Entwicklungsmodell?

Es führt leider nicht dazu, dass sich die Menschen ausreichend und gut ernähren können. Die Abhängigkeit von Importen ist fatal: Jedes Mal, wenn die Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel stark steigen, droht Hunger. Sehr deutlich wurde das 2008 als Folge der sogenannten Finanzkrise oder auch nach Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022.

Was wären Alternativen?

Das Konzept der Ernährungssouveränität ist eine gute Alternative. Es bedeutet, dass die Bevölkerung ihre Ernährung möglichst selbstbestimmt mitgestalten kann, vom Anbau bis zum Konsum. Die Produzent:innen sollen gut von der Landwirtschaft leben können, die Konsument:innen sollen sich gutes Essen leisten können. Es ist ein agrarökologisches Modell, das Natur- und Gesundheitsschutz mitdenkt. Ernährungssouveränität bedeutet hingegen nicht, dass ein Land alle Lebensmittel selbst produziert. Das ist ein häufiges Missverständnis.

Gibt es in Westafrika Bewegungen für Ernährungssouveränität?

Ja, in Guinea-Bissau etwa die bäuerliche Organisation Kafo. In vielen westafrikanischen Ländern ist auch die Convergence Globale des Luttes pour la Terre et l’Eau aktiv. Diese Organisationen setzen sich etwa dafür ein, regionale Märkte zu stärken, die die Städte mit Essen versorgen – zu fairen Bedingungen für die Bäuerinnen und Bauern.

Interview: Bettina Dyttrich

Tina Goethe (58) ist Ko-Abteilungsleiterin Entwicklungspolitik und Themenberatung beim Hilfswerk Heks.