Hungerkrise: Blumen machen nicht satt

Nr. 18 –

Knappe Lebensmittel, hohe Agrarrohstoffpreise – was bedeutet das für die Schweiz? Fragen an eine Bäuerin, einen Bundesbeamten, eine Hilfswerkmitarbeiterin und einen Agrarhistoriker.

«Für uns hat sich nicht viel geändert», sagt Ulrike Minkner. «Wir haben ein kleines Milchkontingent und setzen auf Selbstversorgung und Austausch mit befreundeten Höfen. Dadurch sind wir nicht so stark vom Marktpreis abhängig.» Ulrike Minkner ist Biobäuerin. Mit ihrem Mann Kurt Graf lebt und arbeitet sie auf dem Mont-Soleil im Berner Jura, auf 1200 Metern. Sie halten Milchkühe – original Schweizer Braunvieh – mit Aufzucht, zwei Schweine zur Selbstversorgung und bieten Ferien auf dem Bauernhof an.

Für die Region

Ausserdem ist Ulrike Minkner Geschäftsführerin der Schweizer Bergheimat, einer gemeinnützigen Gesellschaft für die Förderung von Biobauernhöfen im Berggebiet. Der Name täuscht: Die Bergheimat ist eher linksgrün als landigeistig, manch ein Mitglied kommt ursprünglich aus der städtischen Alternativszene. «Viele Bergheimatbauern machen es ähnlich wie wir», erzählt Minkner. «Wir suchen einen Ausweg aus der Falle des globalen Marktes, bei dessen Preisen wir sowieso nicht mithalten können.» Auch jetzt nicht, wo der Milchpreis gestiegen ist? Nein, sagt Minkner. «Den meisten kleinen und mittleren Betrieben bringt der höhere Milchpreis wenig. Denn auch das Futtergetreide ist teurer, das frisst den Gewinn sofort wieder auf. Oder andere Kosten steigen: Wir verkaufen die Milch dem Nordostschweizer Milchverband Miba. Seit 2007 zahlt er uns zwar sechs Rappen mehr pro Liter, dafür kostet uns der Abholdienst neu jedes Mal zehn Franken.»

Den höheren Getreidepreisen weichen Minkner und Graf aus: Sie geben den Kühen nur sehr wenig Kraftfutter. «Dadurch geben sie zwar weniger Milch, aber so sind sie ausgeglichener und haben weniger gesundheitliche Probleme. Und sie leben viel länger als Hochleistungsmilchkühe: Unsere älteste Kuh ist vierzehn Jahre alt.»

Und was wäre eine agrarpolitische Antwort auf die globale Knappheit? «Vor allem keine Importe von Grundnahrungsmitteln aus armen Ländern», fordert die Bäuerin. «Kartoffeln aus Ägypten einzuführen, wo bereits das Brot knapp ist, ist doch eine Schande.» Auch den Trend zu immer grösseren Höfen sieht Minkner skeptisch. Kleine Höfe mit weniger maschineller Arbeit schonten den Boden und brauchten weniger fossile Energien.

«Wir sollten für die Region produzieren – für die Menschen, nicht fürs Viehfutter oder für den Export. Und den Ehrgeiz, möglichst viele Qualitätsprodukte zu exportieren, um unsere Wirtschaftlichkeit zu verbessern, finde ich äusserst fragwürdig. Auch die Bio Suisse folgt heute diesem Trend. Damit konkurrenzieren wir doch bloss unsere Kollegen in anderen Ländern.»

Reicht der Notvorrat?

«Sind Sie sicher, dass Sie zu uns wollen und nicht zum Bundesamt für Landwirtschaft?» Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) hatte es in den letzten Jahren nicht einfach: Das Amt, das die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern während Krisen, Pannen und Katastrophen sicherstellen soll, wurde stark verkleinert. Manche hätten es am liebsten ganz abgeschafft – als überflüssiges Relikt aus dem Kalten Krieg. Das Selbstbewusstsein der MitarbeiterInnen hat das alles wohl nicht gestärkt.

Doch Ueli Haudenschild klingt aufgestellt. Der Doktor der Naturwissenschaften ist Geschäftsstellenleiter für die Bereiche Ernährung, Energie und Heilmittel. «Seit die Medien über die globale Lebensmittelknappheit berichten, wird den Leuten bewusst, dass sich die Versorgungssituation sehr schnell ändern kann. Darum ist das Verständnis für unsere Arbeit wieder grösser, und ich höre öfter die besorgte Frage: 'Haben wir genug Vorräte?' Vor ein, zwei Jahren war das noch anders.» Ein Land, das vierzig Prozent seiner Lebensmittel importiere, müsse sich die Frage der Vorsorge stellen, ist Haudenschild überzeugt. Damit die Schweiz für Krisen gerüstet ist, unterhält sie sogenannte Pflichtlager. Die Lebensmittelimporteure müssen einen Teil der haltbaren Produkte an Lager behalten – Reis, Zucker oder Getreide zum Beispiel. Die KonsumentInnen finanzieren die Pflichtlager über einen Preisaufschlag. Mit den heutigen Pflichtlagervorräten könnte die Schweizer Bevölkerung rund vier Monate mit Grundnahrungsmitteln versorgt werden. Vor vier Jahren reichten die Bestände noch für sechs Monate – auch hier wird gespart.

Das BWL kann keinen Einfluss auf die Agrarpolitik nehmen, aber die Agrarpolitik hat Auswirkungen auf das BWL: Wenn im Herbst das geplante Agrarfreihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen wird, wird der Ackerbau in der Schweiz wohl abnehmen, weil die Produktion von Getreide, Gemüse und Ölsaaten in vielen EU-Ländern billiger ist. Gerade bei den haltbaren Produkten sinkt also die Eigenversorgung. «Das betrifft uns natürlich schon, weil dann die Pflichtlager nicht mehr gleich lange reichen. Aber das BWL darf nicht in die Produktion eingreifen – ausser im Notfall.» Dann könnte es in wenigen Tagen einen entsprechenden Anbauplan erstellen. Eine starke Erhöhung der Eigenversorgung wäre möglich, sagt Haudenschild – allerdings müssten sich die Ernährungsgewohnheiten ändern. Mehr pflanzliche Lebensmittel wären gefragt: Eine Hektare Kartoffeln liefert fünf- bis zehnmal mehr Kalorien als eine Hektare Kuhweide.

Will das BWL wieder mehr Pflichtlager, falls die Rohstoffpreise hoch bleiben? Nein, das sei nicht geplant, sagt Ueli Haudenschild.

Fünfzig Sorten gegen Hunger

Die Schweizer Entwicklungshilfeorganisation Swissaid wird dieses Jahr sechzig Jahre alt. In den letzten Jahren hat sich Swissaid agrarpolitisch deutlich positioniert: für kleinbäuerliche Landwirtschaft und gegen Agromultis, für Ernährungssouveränität und gegen grüne Gentechnik.

«Die Krise ist die Quittung für eine falsche Agrarpolitik», sagt Tina Goethe, die bei Swissaid für Medien und Entwicklungspolitik im Bereich Landwirtschaft zuständig ist. «Produzieren für den Export galt lange als die beste Strategie für arme Länder. So wurden Blumen oder Südfrüchte angebaut statt Lebensmittel für die eigene Bevölkerung. Und der Internationale Währungsfonds hat die armen Länder gezwungen, ihre Grenzen für Nahrungsmittelimporte zu öffnen, die die einheimische Landwirtschaft zerstören – etwa in Haiti. Das Resultat sehen wir jetzt.» Goethe freut sich darum über den neuen Bericht zur Weltlandwirtschaft, der statt auf rein technische Lösungen auf das Erfahrungswissen der BäuerInnen setzt (siehe WOZ Nr. 17/08 ).

Goethe erzählt von einem Projekt in Kolumbien, das von Swissaid unterstützt wird. Sie hat es letztes Jahr besucht: «Dort gibt es auf einem Hof mehr als fünfzig verschiedene Nutzpflanzen und -tiere. Diese Vielfalt ist die beste Strategie gegen Hunger. Eigentlich ist das Biolandbau, aber ich rede lieber von ökologischer Produktion. Bio wird in der Schweiz oft mit Luxus in Verbindung gebracht. Im Süden ist es aber die billigste und sicherste Methode.» Fairer Handel mit dem Norden sei gut, aber noch entscheidender sei die lokale und regionale Vermarktung der Produkte. Und ebenso wichtig sei es, die Organisierung der KleinbäuerInnen zu stärken, ihre Kämpfe um Land und Nutzungsrechte zu unterstützen.

Tina Goethe stellt Forderungen an die Schweiz: «Die Schweiz soll eine Agrarforschung betreiben, die den Kleinbauern im Süden etwas bringt. Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick leistet hier schon gute Arbeit. Und wichtig ist eine Entwicklungszusammenarbeit, die die Ernährungssouveränität stärkt.» Drittens brauche es eine andere Handelspolitik: «Die Schweiz muss für Importe angemessene Preise zahlen. Und arme Länder sollen ihre Landwirtschaft mit Zöllen schützen dürfen.»

Schon 1880 gings nicht

Beat Brodbeck arbeitet im Archiv für Agrargeschichte in Zollikofen bei Bern. Das Archiv ist eine Fundgrube von Wissen zur Geschichte der Landwirtschaft – es hat Unterlagen von mehreren Hundert landwirtschaftlichen Organisationen und von bedeutenden Personen erfasst, vom Alphirtenverband Emmental bis zur Bio Suisse und von Agrarpolitikern bis zu Bäuerinnen und Dienstboten.

Der Archivar wohnt im Berner Seeland. Dort, wo ein grosser Teil des Schweizer Gemüses wächst – noch. Brodbeck ist sicher, dass sich das mit dem EU-Agrarfreihandelsabkommen ändern wird. Denn Gemüsebau ist arbeitsintensiv, die Lohn- und Produktionskosten sind in der Schweiz hoch, die Umweltvorschriften vergleichsweise streng, das Wetter ist unzuverlässig und das Agrarland knapp – quadratkilometergrosse Höfe wie in Ostdeutschland sind hierzulande nicht möglich.

In seiner Lizenziatsarbeit hat sich der Historiker mit dem Schweizer Milchmarkt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt. «Das 19. Jahrhundert gilt unter liberalen Ökonomen als Paradies des Freihandels. Dabei zeigte sich schon damals, wie problematisch einseitige Exportausrichtung und ungeordnete Märkte sind», betont er. Ab 1880 wurden die Schwankungen auf dem internationalen Käsemarkt so dramatisch, dass Bauern, Käser und Händler begannen, den Markt gemeinsam zu organisieren. So entstanden die grossen Verbände wie die Käseunion. «Natürlich führten sie auch zu problematischen Entwicklungen, aber sie sorgten für eine Berechenbarkeit, die eigentlich allen zugute kam. Heute werden all diese Regulierungen niedergerissen. Es heisst, davon würden die Konsumenten nur profitieren, aber das bezweifle ich.» Das Freihandelsabkommen komme ihm vor wie ein weiterer verzweifelter Versuch, irgendwie das Wachstum weiter zu steigern. «Dabei wird vergessen, dass Landwirtschaft nie ähnliche Wachstumsraten erreichen kann wie die Industrie. Das Einzige, was sicher wächst, ist der Verkehr.»

Wozu Handel?

Beat Brodbeck plädiert dafür, grundsätzliche Fragen zu stellen. Etwa diese: Wozu dient Handel eigentlich? «Bis ins 20. Jahrhundert hinein versorgten sich die Regionen weitgehend selbst mit Lebensmitteln, der Handel lieferte Produkte, die regional nicht hergestellt wurden. Dass mit allen Agrargütern auf dem Weltmarkt gehandelt wird, ist eine relativ neue Entwicklung. Sie kommt vor allem Investoren und Spekulanten zugute.» Die Grundnahrungsmittel sind zu wichtig, um dem Weltmarkt und seinen Schwankungen überlassen zu werden – davon ist Brodbeck überzeugt. Dabei gehe es nicht um die Interessen der BäuerInnen, sondern um die Ernährung aller. «Wir sollten zuerst fragen: Welche Produktion wollen wir? Unter welchen Bedingungen? Mehr direkte Kontakte zwischen Bauern und Konsumenten würden viele Probleme lösen. Der Freihandel vergrössert die Distanz.»