Film: Am offenen Herzen

Was heisst das schon, dass ein Film «funktioniert»? Dass Form und Inhalt so sauber zusammenpassen, dass am Ende keine Fragen offenbleiben – schon gar nicht jene, ob es ethisch und ästhetisch fragwürdig ist, gesellschaftliche Traumata fern jeglicher filmsprachlicher Pietät zu behandeln? Nein, insofern funktioniert «Emilia Pérez» überhaupt nicht, und nein, es wäre falsch, Jacques Audiards durchgeknallte Genreexplosion deswegen zu verpassen. Denn wo sonst wären solche in allen Aspekten überdosierte, provozierende und überfordernde Erfahrungen in einem einigermassen sicheren Umfeld noch zu haben?
Im Zentrum steht die vielleicht steilste aller Thesen der letzten rund 2000 Jahre: dass jeder Mensch Vergebung verdient hat. Und, nur ein bisschen weniger anmassend: dass sich eine Gesellschaft aus dem Inneren ihrer eigenen Korruption heraus heilen kann. Zum Beispiel, wenn der Boss eines mexikanischen Drogenkartells (Karla Sofía Gascón) mit sehr viel Blut an den Händen eine Anwältin (Zoë Saldaña), die ihr juristisches Talent als Verteidigerin von Frauenmördern einsetzt, damit beauftragt, ihm bei der ersehnten Geschlechtsangleichung beizustehen – worauf die beiden Frauen nach erfolgter Operation eine Stiftung gründen mit dem Zweck, einen gesellschaftlichen Heilungsprozess anzustossen, weil sie buchstäblich wissen, wo die Leichen begraben sind.
Die pessimistische Gegenposition formuliert Audiards Film gleich selber, mit den Worten eines israelischen Arztes: Mann bleibt Mann, Frau bleibt Frau, Wolf bleibt Wolf, und wer das nicht einsieht, wird als Schaf von Letzterem gefressen. Nein, singt da die Anwältin zurück: Neuer Körper führt zu neuer Gesellschaft führt zu neuer Seele. Denn ja: «Emilia Pérez» ist ein Musical, dessen grossartige Lieder noch lange nach dem exzessiv melodramatischen Ende nachhallen. Und ja, «Emilia Pérez» ist erzählt wie eine Telenovela, denn ja: Steile Thesen finden ihr Ziel besser, wenn sie statt auf den Kopf direkt ins Herz geschossen werden.