Auf allen Kanälen: Oscars im Pelz
Von Schafen und anderen Wölfen: Ein kurzer Ausblick auf die lange Nacht der 97. Academy Awards.

Heute wieder mal tiefgründige Kontroverse hier: Die Oscars, sind Sie dafür oder dagegen, und wen kümmert das überhaupt? Die NZZ wird sicher erneut den falschen Glanz des woken Glamours entlarven: So scheinheilig links ist der Hollywood-Mainstream! Und die «Weltwoche»: Warum der missverstandene russische Propagandafilm «Russians at War» nicht nominiert ist – die Hintergründe live aus Moskau. Die WOZ dagegen, wieder mal auf dem verlorenen Posten der seriösen Kulturkritik: Hegemonie des Marketings, es gibt keinen richtigen Oscar im Falschen.
Und wer wüsste das besser als Karla Sofía Gascón? Nominiert für ihre Rolle in «Emilia Pérez», war die spanische Schauspielerin auf dem besten Weg, am 2. März als erste trans Frau einen Oscar zu gewinnen. Doch dann grub eine kanadische Journalistin alte Posts von Gascón aus, in denen diese sich abschätzig bis rassistisch über Black Lives Matter und die Academy Awards geäussert hatte, ein paar islamfeindliche Ressentiments gabs noch obendrauf. Shitstorm! Um Schadensbegrenzung bemüht, zog Netflix die Schauspielerin daraufhin von der millionenteuren Oscar-Kampagne für «Emilia Pérez» ab. Das Marketing regiert gnadenlos: Wer die Chancen eines Films kompromittiert, wird ausgemustert.
Man könnte aber auch sagen: «Emilia Pérez», das französische Musical über den Boss eines mexikanischen Drogenkartells, der sich als Frau neu erfindet, hat es nicht anders verdient. Und zwar nicht etwa wegen des Hors-sol-Effekts, dass sich eine rein französische Crew das Mexiko in diesem Film ausgedacht und dann in einem Studio in Paris aufgebaut hat. Sondern weil sich der Film von Jacques Audiard für die trans Identität seiner Titelfigur auch nur so weit interessiert, als es seinem zeitgeistigen Kalkül dient.
Netflix muss wohl warten
Schärfer noch formulierte das der trans Philosoph Paul B. Preciado. In seiner Abrechnung in der «Libération» wies Preciado darauf hin, dass diese Geschichte von der guten Frau, die ihre eigene Familie und ihr ganzes Umfeld über ihr Vorleben als böser Drogenboss täuscht, ein zentrales Element des transfeindlichen Diskurses reproduziert: das Stereotyp von der trans Frau als Wolf im Schafspelz. Nur folgerichtig, dass Emilia diese tückische Scharade am Ende des Films mit dem Opfertod bezahlen muss. «Emilia Pérez», so Preciado, sei die Art von Erzählung, auf die sich die liberale Mehrheitsgesellschaft einigen könne, ohne dass sie dafür ihre eigenen geschlechterpolitischen Vorurteile hinterfragen müsse. So passt es eigentlich ganz gut zu diesem scheinbar progressiven Film, dass ihm jetzt die reaktionären Aussagen seiner Hauptdarstellerin auf die Füsse gefallen sind.
In der Oscar-Nacht wird sich «Emilia Pérez» deshalb trotz dreizehn Nominierungen wohl mit dem einen oder anderen Trostpreis begnügen müssen, etwa für den besten internationalen Film. Womit der Streamingriese Netflix, der vor sechs Jahren schon bei «Roma» an die dreissig Millionen Dollar in seine Oscar-Kampagne steckte, wie die «New York Times» damals vorrechnete, einmal mehr vergeblich um einen Oscar für den besten Film geworben hätte (der ging damals an «Green Book»).
Sexszenen ohne Coach
Die Favoritenrolle hat inzwischen «Anora» geerbt, Sean Bakers ähnlich plakativer Siegerfilm von Cannes über eine Stripperin, die mit einem partyfreudigen russischen Oligarchensohn vor dem Altar landet. Sie erliegt den Verlockungen des Kapitals, aber der Film will uns dann weismachen, dass sie sich irgendwie doch auch ernsthaft in den unbrauchbaren Jüngling verliebt. Ein Hauch von Kontroverse auch hier, weil Hauptdarstellerin Mikey Madison beim Dreh auf einen Intimitätscoach verzichtete. Sie spielt das hochtourig furios, und weil sich praktisch alle männlichen Figuren demgegenüber wie Idioten aufführen, fällt gar nicht so auf, dass das geschlechterpolitisch ein ziemlich gestriger Film ist. Passt aber auch ganz gut zu den diesjährigen Oscars, wo unter den acht besten Filmen nur einer von einer Regisseurin ist («The Substance» von Coralie Fargeat). Stimmigster Sieger wäre insofern der päpstliche Thriller «Conclave»: Männer seit jeher weitgehend unter sich, dafür tragen sie festliche Roben.
Eine deutsche Übersetzung von Paul B. Preciados Essay über «Emilia Pérez» ist in der aktuellen «Berlin Review» erschienen. www.blnreview.de