Von oben herab: Lob und Preis
Stefan Gärtner über Reden, Europa und Allergien

Journalismus ist ja – wer wüsste es besser als ich! – zu einem Gutteil Simulation, und ein klassischer Indikator, ob der Durchblick echt oder nur gespielt ist, ist Karl Kraus’ berühmter Satz, mit dem die «Dritte Walpurgisnacht» beginnt: «Mir fällt zu Hitler nichts ein.» Erst mal wird der Satz in der Hälfte der Fälle falsch zitiert, und selbst wer ihn richtig zitiert, weiss oft nicht, dass Kraus nach diesem Satz 300 Buchseiten folgen lässt, auf denen ihm sehr wohl allerhand zu Hitler einfällt. «Selbst Karl Kraus, dem unerbittlichen Kritiker seiner Zeit, fiel zu Hitler ‹nichts ein›», lese ich dann und weiss, dass Journalismus: Siehe oben.
Mir fällt zum «Europapreis für politische Kultur» der Hans-Ringier-Stiftung nichts ein, der am Wochenende bei einem «Dîner Républicain» in Ascona an Adolf Muschg verliehen wurde. Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem Resultat längeren Nachdenkens und vielfacher Versuche, das Ereignis und die bewegende Kraft zu erfassen, beträchtlich hinter den Erwartungen zurückbleibe, darf mich dabei aber auf Stiftungspräsident Frank A. Meyer berufen, dem in der Preisbegründung nicht sehr viel mehr als nichts einfiel: Mit Muschg werde «zum ersten Mal ein Schweizer geehrt, der unser Land immer wieder an seine Lebenswirklichkeit mitten in Europa erinnert. Adolf Muschg ist Patriot und Eidgenosse – und Europäer. Als international profilierter Intellektueller und Schriftsteller verkörpert er demokratische Vernunft und kritisches Denken. Adolf Muschg steht mit seinem Lebenswerk für all die Werte, die wir erneut zu verteidigen haben – für die europäische Freiheitskultur», womit vermutlich nicht jene Festungskultur gemeint ist, die europäische Patrioten und patriotische Eidgenossinnen so gern gemeinsam vertreten.
Doch Obacht: «Muschgs Europäertum ist keins der Einheit und Synthese, wie sie heute allenthalben gefordert werden, auch keins einer forcierten europäischen Identität», schärft Publizist und Laudator Andreas Isenschmid den Blick für die Triftigkeit der Entscheidung, Muschg die karge Rente mit 50 000 Franken aufzubessern. «Gegen Nüsse», Quatsch: «Identität ist Muschg allergisch, er setzt gegen sie die Aporie, die Spannung und den produktiven Konflikt.» Das tue ich auch, und zudem erinnere ich mein Land wirklich permanent an seine Lebenswirklichkeit mitten in Europa – der feine, aber sicher entscheidende Unterschied: Muschgs «europäische Vertiefung» ist «keine bürokratische, sondern eine mit Blick auf die geschichtliche, letztlich antike Tiefe, auf die sich eine neue europäische Erzählung beziehen müsste».
Da muss ich passen, denn die europäische Tiefe, die mir vorschwebt, wäre eine rücksichtslos bürokratische, die allein auf Netflix, Insta und Flat White zu beruhen hätte, zumal mein zynischer Lateinlehrer, der nichtgymnasiale Lateinbildung für unnötig hielt, dafür gesorgt hat, dass meine antike Tiefe nicht weiter reicht als Isenschmids Gründelei. Muschg ist der 19. Preisträger, und da ist es verständlich, dass sich weder Frank A. Meyer noch sonst jemand bei Ringier die Mühe machen will, da jedes Mal was Neues auszubrüten, zumal den Europakulturpreis kriegen eh voraussetzt, für die europäische Erzählung und jene Art von Vernunft zu stehen, die bei Ringier allemal als kritisch durchgeht. Gratis- als Passepartoutgerede ist aber nicht per se schlimm, denn als Sibylle Lewitscharoff den Büchnerpreis gewann, liess sie ihren selbstgemachten Vortrag mit einem ironischen, das Gendergaga versiert auf die Schippe nehmenden Gag in Richtung Akademiepräsident ausklingen: «Professorin Heinrich Detering, willkommen in der weichen Welt des neuen deutschen Feminismus!»
Zu Lewitscharoff muss mir ja gottlob nichts mehr einfallen, und wenn die Preisreden bald die KI übernimmt, wirds mich nicht stören.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.