Kriegsdienst in der Ukraine: «Ich kann das nicht, jemanden töten»

Nr. 22 –

Für viele ukrainische Männer ist das Studium zu einem Weg geworden, legal dem Einzug in die Armee zu entgehen. Darüber sprechen wollen die wenigsten.

Wandbilder an der Universität in Kyjiw
Die Wandbilder an der Universität in Kyjiw gab es schon vor dem Krieg. Sie zeigen die Vielfalt der angebotenen Studienfächer, darunter auch Militärwissenschaften.

Das Studium sollte eine schöne Zeit sein im Leben. Eine Zeit, in der man sich findet, Pläne für die Zukunft schmiedet, Freund:innen kennenlernt, vielleicht Dummheiten anstellt. Doch die Leichtigkeit endet bereits am Eingang zum Polytechnischen Institut (KPI) der Nationalen Universität in Kyjiw, einer der renommiertesten Universitäten des Landes. Auf einer Gedenktafel wird mit Schwarzweissfotos der Studierenden, Dozent:innen und Alumni gedacht, die seit dem 24. Februar 2022 gefallen sind. Mindestens 33 sind es laut dem KPI, ein Student gilt als vermisst, irgendwo an der Front, die sich mittlerweile Hunderte Kilometer von Kyjiw entfernt befindet.

«Wir waren alle naiv», sagt Andrej Mitroschin, er studiert am KPI im Master Ingenieurswesen. «Die meisten hier glaubten nicht daran, dass Russland angreifen würde.» Der 23-Jährige sitzt mit Energydrink und Rucksack auf einer Bank auf dem Unigelände, wo an diesem Tag im Mai der Flieder blüht. Im Park daneben hocken Student:innen in Gruppen unter den hohen Kastanienbäumen.

An dem Morgen, als der Krieg begann, war Andrej Mitroschin hier auf dem Campus, wo er als einer von 6000 Studierenden lebt. Damals fand sein Unterricht coronabedingt noch online statt. Fast eineinhalb Jahre später ist Mitroschins Leben ein anderes. Er sagt, dass er mehr auf seine Gesundheit achte, er habe abgenommen, mache mehr Sport. «Ich halte mich fit. Aber ich bin kein Kämpfer. Ich will mich auf mein Studium konzentrieren», sagt er. So weit das eben möglich ist.

Das Studium als Lifehack

Der Krieg hatte seine Heimatstadt Mykolajiw im Süden des Landes in den vergangenen Monaten fest im Griff, die drastischen russischen Angriffe lassen noch immer nicht nach. Als im April des Vorjahres eine Rakete in der Nähe des Wohnhauses der Familie einschlug, wurden auch ein Fenster und der Balkon der Wohnung beschädigt. Mitroschin reparierte den Schaden später mit Geld, das er für seine Zukunft gespart hatte. Sein Bruder und sein Vater sind mittlerweile an der Front, und der Kontakt zu ihnen ist nicht immer möglich. «Ich bin stolz auf sie», sagt er. Doch selbst will er nicht kämpfen. «Ich kann das nicht, jemanden töten.» Auch anderen Männern im Land geht es so wie Andrej Mitroschin. Doch darüber zu sprechen, fällt vielen schwer. In den meisten Fällen erhalten Reporter:innen die Antwort: «Wenn ich muss, dann werde ich kämpfen.» Mitroschin muss nicht. Denn Studenten und Lehrpersonal werden in der Ukraine nicht mobilisiert. Sie waren bereits vor der russischen Invasion am 24. Februar 2022 von der Wehrpflicht ausgenommen.

«Für viele Männer ist das Studium deshalb zu einem Lifehack geworden», sagt Journalistin Kateryna Rodak vom Investigativmedium «Nashi Groshi» in Lwiw. Im Zuge einer vor kurzem veröffentlichten Recherche trug das Team die landesweiten Daten zu Anzahl und Geschlecht der Studierenden zusammen und stellte überraschend fest, dass es im Studienjahr 2022/23 in der Ukraine 82 Prozent mehr männliche Studierende gibt als im Vorjahr. Das Durchschnittsalter jener, die sich neu an den Unis einschrieben, liegt bei Mitte dreissig. «Wir haben uns natürlich gefragt, warum das so ist», sagt Rodak. «Die naheliegende Antwort ist, dass viele auf diesem Weg legal einer Mobilisierung entkommen wollen.»

Eine unberechenbare Zeit

Rodak suchte nach Interviewpartnern – ein schwieriges Unterfangen. Wenn sich die Männer bereit erklärten, mit ihr zu sprechen, dann nur vollständig anonymisiert, ohne Namen, ohne Bild. «Viele gaben zu, dass sie kein Interesse an einem Studium haben, sondern das Minimum leisten, um nicht von den Unis zu fliegen», erklärt die Journalistin. Ein Umstand, der in Friedenszeiten wohl kaum der Rede wert wäre. Doch die Ukraine befindet sich im Ausnahmezustand. «Die Männer, mit denen wir sprachen, wollen so wie die Frauen leben», sagt Rodak. «Sie haben Angst vor dem Sterben und vor der Front. Und sie haben Angst, dafür verurteilt zu werden.»

Für das Gespräch mit der WOZ wählt ein Student, der seinen Namen nicht in der Zeitung gedruckt wissen will, den Vornamen Mischa. Mischa ist Mitte zwanzig, studiert Literatur und möchte irgendwann vielleicht als Übersetzer arbeiten. «Wir leben in einer unberechenbaren Zeit. Die Militäradministration ist zuständig für die Mobilisierung und patrouilliert an vielen Orten. Deswegen sind viele von uns vorsichtig und haben Angst, dass vielleicht später rauskommt, wie wir uns geäussert haben», antwortet er auf die Frage, warum er nicht mit seinem Klarnamen zitiert werden will.

Mischa entschied sich aus zwei Gründen für das Masterstudium: Er will, dass die russischen Angreifer es nicht schaffen, das Leben und den Lebensstil in seinem Land vollkommen zu untergraben. Dass selbst in solchen Zeiten der Gewalt noch immer gelernt wird und sich die Menschen nicht in den Kellern verstecken. Der zweite Grund ist die Mobilisierung. Mischa hat Angst, dass es irgendwann auch ihn trifft. «Ich spüre keinen generellen Druck der Gesellschaft, dass Männer wie ich kämpfen sollen», sagt er. «Aber es gibt sie: jene, die meinen, dass alle Männer das Land vor den Russen schützen sollen.» Besonders laut sind diese Stimmen, die Beschimpfungen und Diffamierungen, online.

Futter für die Propaganda?

Dass wütende Kommentare und Anrufe auch auf die Recherche von «Nashi Groshi» folgen würden, davon sei auszugehen gewesen, sagt Kateryna Rodak. «Viele haben sich bei uns beschwert und gefragt, warum wir über dieses Thema berichten, weil sie der Meinung sind, dass wir nur über das Positive in unserem Land schreiben sollen. Die Moral, die grosse Bereitschaft, zu kämpfen.» Ein Argument, das Investigativjournalist:innen wie Rodak derzeit immer wieder von Kritiker:innen hören, auch wenn sie über Korruption und innenpolitische Skandale berichten, ist, dass die Berichterstattung der russischen Propaganda in die Hände spiele. Oder dass nun nicht die Zeit für diese Fragen und Recherchen sei, erst nach dem Krieg. «Aber so funktioniert es in einer demokratischen Gesellschaft nicht», sagt Rodak. «Leider nutzen auch viele Beamte den Krieg, um Informationen zu verbergen, wenn wir Anfragen stellen.»

Dabei sei es wichtig, eine Bestandsaufnahme zu machen, zu verstehen, in welcher Situation sich die Menschen befänden und wie die Stimmung wirklich sei. Die Unterstützung für die Regierung ist noch immer hoch, das zeigten Umfragen wiederholt. Der Grossteil der Bevölkerung will mit Russland nichts mehr zu tun haben. Doch im Zuge der angekündigten Gegenoffensive steht das Land vor einer grossen Herausforderung: Es muss erneut mit hohen Verlusten rechnen, wie das bereits in Charkiw und Cherson der Fall war. Für diejenigen, die seit Kriegsbeginn kämpfen, ist noch immer keine Pause in Sicht. Und für jene Männer, die nicht das Privileg oder die Mittel haben, sich an einer Hochschule einschreiben zu können, steigt das Risiko, eingezogen zu werden – mit jedem weiteren Tag, den der Krieg andauert.

«Derzeit melden sich bei uns fünf bis zehn Prozent freiwillig», sagt Oberst Jurii Burliai, der Leiter des Einberufungszentrums im Kyjiwer Vorort Browary. Vor dem Eingang steht ein bewaffneter Soldat hinter einem Tarnnetz und einem Schutzwall aus Sandsäcken, wie sie an den meisten militärischen Checkpoints zu sehen sind. Burliai bittet in sein Büro, wo sich die Einberufungsbescheide stapeln. Der Oberst teilt die männliche Bevölkerung in der Ukraine derzeit in drei Kategorien ein: Zur ersten gehören jene, die in den ersten Kriegstagen und -wochen freiwillig zu den Einberufungsämtern kamen und zur Waffe griffen. In die zweite Kategorie fallen diejenigen, die nicht kämpfen wollten, aber trotzdem an die Front gingen, als sie mobilisiert wurden. Zur dritten gehören diejenigen, die nicht in den Krieg ziehen wollen und nach verschiedenen Möglichkeiten suchen, einer Mobilisierung zu entkommen.

Zusätzliche Aufnahmetests

Oberst Burliai weiss, dass viele nach Wegen suchen, die Mobilisierung zu umgehen, auch auf legale Weise. «Vielleicht wirkt sich das ja positiv auf das Bildungsniveau in der Bevölkerung aus, aber wir wissen auch, dass nicht alle nur um des Wissens willen studieren», sagt er. «Es ist eine Tatsache, dass diejenigen, die tagein, tagaus ihr Leben an der Front riskieren, nicht gut zu sprechen sind auf die anderen, die sich vor der Mobilisierung verstecken. Mit Sicherheit wird es nach dem Krieg Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen geben.»

Doch der Kampf gegen die russische Invasion finde nicht nur auf dem Schlachtfeld statt, sagt Oleksii Schuchenko, Prorektor des KPI in Kyjiw. Schuchenko (39), blauer Anzug, frisch rasiert, betont, dass seine Studierenden einen wichtigen Beitrag im Krieg leisteten. «Unsere Ingenieure und Wissenschaftler der Universität nehmen aktiv an der Entwicklung verschiedener Verteidigungstechnologien teil», sagt er. Nach dem Ende des Krieges werde man offenlegen, wie genau.

Auf dem Schreibtisch vor sich hat Schuchenko ein Blatt Papier mit Balkendiagrammen liegen. Insgesamt zählt das KPI 25 000 Student:innen, davon leben zwölf Prozent kriegsbedingt im Ausland und studieren online. Knapp siebzig Prozent der Studierenden sind männlich, ähnlich wie in den Jahren zuvor. Das hänge auch damit zusammen, dass das Hauptaugenmerk des KPI auf Ingenieurswesen und IT liege – zwei Schlüsselindustrien, die in der Ukraine traditionell eher Männer anziehen. «Wir haben sogar zusätzliche Tests eingeführt, um jene herauszufiltern, die nur aufgrund der Gefahr einer Mobilisierung studieren wollen», so der Prorektor. «Ich urteile nicht darüber, aber ich kann das auch nicht gutheissen.»

Glück im Unglück

Die Universität habe in diesen Tagen andere Probleme, sagt Prorektor Schuchenko. Durch die sonnendurchfluteten Gänge führt er am Portier und der Gedenktafel vorbei hinaus auf das Parkgelände, wo der verkohlte Rasen und einige abgebrannte Äste davon zeugen, was in der Nacht vor dem Gespräch geschah, als Kyjiw einmal mehr von Russland mit Drohnen und Raketen angegriffen wurde. Laut der ukrainischen Armee gelang es der Luftverteidigung in den vergangenen Wochen zwar, die meisten Raketen und Drohnen über der Stadt abzufangen. Doch die Trümmer fallen dabei regelmässig auf Häuser, Autos oder – in diesem Fall – das Parkgelände des KPI.

«Wir hatten Glück im Unglück», sagt Schuchenko. Er muss an die vielen anderen Bildungseinrichtungen im Land denken. Laut einer Studie des ukrainischen Bildungsministeriums und der Vereinten Nationen hat der Krieg im ganzen Land Schäden in Höhe von mindestens 4,4  Milliarden US-Dollar an Bildungseinrichtungen verursacht. Bis zum 24.  Februar 2023 wurden mindestens 2772 Einrichtungen teilweise beschädigt und 454 zerstört – das entspricht etwa zehn Prozent.

«Ich habe wenig geschlafen in den vergangenen Wochen», sagt Student Andrej Mitroschin, der wie die meisten Einwohner:innen der Hauptstadt im vergangenen Monat beinahe täglich von Explosionen geweckt wurde. «So etwas hatten wir in Kyjiw schon lange nicht mehr.» Obwohl sich die Front mittlerweile weit entfernt befinde, könne man dem Krieg auch in der Hauptstadt nicht entkommen, jeder müsse seinen Beitrag leisten. «Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der kämpfen muss», sagt Mitroschin. «Wir anderen müssen sie dabei unterstützen.»

Er selbst spendet Blut, alle zwei Wochen, für die verletzten Soldat:innen. Andrej Mitroschin sagt, dass er keinen gesellschaftlichen Druck verspüre, zu kämpfen – im Gegenteil, seine Eltern wollten, dass er fertig studiere. Sein Traum ist es, am KPI zu unterrichten. Deshalb will er nach dem Master noch ein Doktorat anhängen. Und wenn er doch müsse, dann werde er eben kämpfen, sagt Mitroschin, so wie die meisten, die man fragt.