Mobilisierung in der Ukraine: Die schwierige Frage, wer kämpfen muss
Nach Beginn der russischen Invasion gab es in der Ukraine eine nie da gewesene Einigkeit. Doch mittlerweile wächst der Frust, und es zeigen sich Risse in der Gesellschaft.
Das bunte Treiben in Kyjiw passt nicht zur dramatischen Lage an der Front im Oblast Charkiw und im Donbas. Spaziergänger:innen bummeln durch eine Einkaufsstrasse im Zentrum, wo im April der Zara-Shop nach zweijähriger Schliessung wiedereröffnet hat. Pärchen fotografieren sich für Instagram. Und neben den Plakaten, die zum Eintritt in die Armee aufrufen, blühen die Kastanien- und Kirschbäume. Nur hin und wieder werden die Passant:innen abgelenkt. Sie blicken verstohlen auf die Beinprothese eines Veteranen. Oder drehen vorsichtig den Kopf, wenn sie an den uniformierten Beamten vorbeigehen, die alle, aber besonders die Männer, jederzeit nach ihren Papieren fragen könnten.
Als negativ und pessimistisch beschreiben viele Beobachter:innen die Stimmung in der Ukraine nach mehr als zwei Jahren im Krieg, mit den Luftangriffen, Ausgangssperren und eingeschränkten Möglichkeiten. Theo Kowalenko spricht von einer grossen Frustration. Der 24-Jährige, der offen von seinen Ängsten und seiner Einstellung zu heiklen Themen erzählt, will seinen richtigen Namen deshalb nicht veröffentlicht wissen. Sein Leben sei im Stand-by-Modus – was er sich fast nicht zu sagen traue, denn es gebe immer jemanden, dem es noch schlechter gehe. Der seine Verwandten verloren hat oder sein Haus – oder der im Schützengraben kämpft. «Ich schäme mich dafür, dass ich nicht an der Front bin, sondern hier Kaffee trinke. Das ist nicht richtig», sagt er.
Unterschiedliche Erfahrungen
Dass Russland für das alles verantwortlich sei, steht für Kowalenko ausser Frage. Doch langsam mache sich diese Unzufriedenheit bemerkbar, weil er sein Leben nicht planen könne. Dass er sich schon während Corona eingesperrt fühlte, habe er längst verdrängt. Seinen Vater hat er seither nicht gesehen. Seine Eltern leben seit fünf Jahren in Polen, wo der Vater arbeitet. Aufgrund des Kriegsrechts dürfte er nach einer Einreise in die Ukraine das Land nicht mehr verlassen. Kowalenkos Mutter kam seit dem 24. Februar 2022 dreimal in die Ukraine: für medizinische Behandlungen, für seinen Geburtstag. Doch er geht nicht davon aus, dass seine Eltern in naher Zukunft zurückkommen.
Und auch sein grosser Traum vom Studium in Berlin wird sich vielleicht nicht erfüllen. In einigen Wochen wird er 25 Jahre alt und könnte laut der vor kurzem abgesegneten Gesetzesänderung, die das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt hat, mobilisiert werden. «Ich habe Angst, getötet zu werden», sagt er. Deshalb will er nicht kämpfen.
Theo Kowalenko steht nicht allein da. Doch es gibt keine Statistik dazu, wie viele Männer in der Ukraine nicht kämpfen wollen. Nur so viel ist bekannt: Jene, die bereit waren, sich freiwillig zu melden, haben dies schon im ersten Kriegsjahr getan. «Und genau daran lassen sich die immer sichtbarer werdenden Risse in der Gesellschaft ablesen», sagt Lubomir Mysiw. Er ist stellvertretender Direktor der angesehenen Forschungsgruppe «Rating» und analysiert Umfragen und Stimmungsbarometer. An einem Mittwochvormittag im Mai öffnet er die Tür zu seinem Büro in einem schroffen Wohnblock im Zentrum von Kyjiw. Noch auf dem Weg ins Besprechungszimmer erklärt er, dass er wegen der erneuten nächtlichen Raketenangriffe wenig geschlafen habe und deshalb später zur Arbeit gekommen sei. Wieder einmal habe er stundenlang im Flur gesessen, bis der Alarm vorbei gewesen sei. Aber immerhin sei die Lage nicht so schlimm wie im Mai des Vorjahres, als die Bewohner:innen der Hauptstadt beinahe jede zweite Nacht von Explosionen geweckt wurden.
«Ohne Hoffnung verlieren wir alles»
Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin spürt den Krieg. Allerdings, sagt Mysiw, auf unterschiedliche Art. Das sei der Hauptgrund für die von ihm beobachtete zunehmende Spaltung der Gesellschaft: «Es macht einen grossen Unterschied, ob Sie Binnenvertriebener sind oder in der Westukraine leben. Ob Sie bei den Streitkräften sind, freiwilliger Helfer – oder einfach in Ihrer Stadt leben. Ob Sie ins Ausland abgewandert oder in der Ukraine geblieben sind.»
Laut der Umfrage eines anderen Instituts, des Razumkov Centre, gaben zuletzt 37,7 Prozent der Befragten an, dass sich die Dinge in der Ukraine, etwa was die Wirtschaft oder die Lage an der Front angeht, in die richtige Richtung entwickeln würden. Für 38,7 Prozent stimmt die Richtung nicht, für den Rest war die Frage «schwierig zu beantworten».
Lubomir Mysiw von der Rating Group sagt, dass die Stimmung im letzten Jahr gekippt sei. Nach den ausbleibenden militärischen Erfolgen, den Skandalen in der Regierung, der Absetzung von Armeechef Waleri Saluschni und der zögerlichen Haltung der westlichen Partnerländer, den vielen Debatten über Hilfs- und Waffenlieferungen. Die Resilienz in der Gesellschaft sei zwar noch immer auf einem hohen Niveau, sagt Mysiw, weil die Menschen keine andere Wahl hätten. «Doch wenn Sie nach dem Sieg der Ukraine fragen, dann fragen Sie nach einer Hoffnung. Das ist ein psychologisches Thema. Wir verstehen, dass die Hoffnung unsere Lebensgrundlage ist. Ohne sie werden wir alles verlieren.»
Dass die Armee Soldaten braucht, liegt auf der Hand. Doch das Thema Mobilisierung polarisiert. Ein grosser Unterschied in der Haltung dazu sei zwischen den Altersgruppen bemerkbar, erklärt Mysiw. Während mehr als die Hälfte der Befragten über 60 angaben, dass zu wenig mobilisiert werde, finden das bei den 18- bis 29-Jährigen lediglich zwanzig Prozent.
Dabei könnte sich die Haltung zur Mobilisierung verbessern, wenn endlich die Demobilisierung eingeführt würde, sagt Inna Sowsun. Sie ist Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei Holos und unterrichtet Politikwissenschaft an der Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie. Denn noch immer wissen jene, die seit über zwei Jahren kämpfen, und auch die neu Rekrutierten nicht, wann sie die Armee wieder verlassen können.
Das gilt auch für den Partner von Inna Sowsun, der sich nach Beginn der Invasion freiwillig gemeldet hat. Bis auf einige wenige Male, wenn er zur Basis seiner Einheit in Kyjiw kam, hat sich das Paar seither nicht gesehen. Deshalb stand Sowsun im April am Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz, und protestierte gemeinsam mit anderen Frauen, deren Männer seit Kriegsbeginn an der Front kämpfen. Eigentlich, sagt die Politikerin, habe sie ihr Privatleben nicht zum Teil ihrer Agenda machen wollen. Doch irgendwann wurde ihr klar, dass niemand im Namen der Menschen spricht, deren Angehörige im Dienst sind. Dass nun andere kämpfen und die Soldat:innen in diesem nicht enden wollenden Krieg an der Front ablösen sollen, sei eine berechtigte Forderung. Doch das Kriegsrecht, das bislang keine Demobilisierung vorsieht, wurde bereits mehrfach verlängert, zuletzt Anfang Mai.
Sowsun sagt, dass die Regierung nicht richtig mit dem Thema umgehe. «Selenski tut so, als gäbe es das Problem nicht», sagt sie. Der Präsident habe Angst davor, weiter an Beliebtheit zu verlieren. «Ich respektiere Selenski für das, was er bisher geleistet hat. Aber ich denke, im Moment versagt er in seiner Führungsrolle, genau jetzt. Er lässt die Soldaten im Stich, die dieses Land vor zwei Jahren buchstäblich gerettet haben.»
Die Debatte über die Demobilisierung wird emotional geführt. «Und die Rufe nach mehr Gerechtigkeit werden immer lauter», sagt Sowsun. «Wir können den Krieg nicht gewinnen, wenn immer der gleiche kleine Prozentsatz von Menschen kämpft.» Die Aussicht auf eine Demobilisierung könnte laut Sowsun helfen, neue Freiwillige zu finden. Denn dann wäre für diese zumindest ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar.
Ausserdem verlaufe die Mobilisierung intransparent, und sie sei sozial ungerecht: «Menschen aus dem ländlichen Raum sind überproportional betroffen, vor allem ärmere Menschen», sagt Sowsun, die von 2014 bis 2016 stellvertretende Ministerin für Bildung und Wissenschaft war. Auch Menschen mit geringerem Bildungsniveau würden häufiger eingezogen: «Im Grunde genommen jeder, der über ein geringeres Sozialkapital verfügt. Der also niemanden kennt, der jemanden kennt, der weiterhelfen könnte. Leider.»
Statistische Daten dazu sind öffentlich nicht zugänglich. Sie könne ihre Aussage nur auf Erzählungen von Bekannten stützen, sagt Sowsun – und auf den Grad der Betroffenheit im Parlament. «Ich kenne zwei, drei andere weibliche Abgeordnete, deren Partner im Dienst sind. Und es gibt eine Abgeordnete, deren Ehemann im Kampf leider gefallen ist. Aber die meisten der insgesamt 85 weiblichen Abgeordneten spüren die Auswirkungen der Mobilisierung nicht.»
Das Recht auf Glück
Die Debatte über die ukrainischen Männer im Ausland hingegen empfindet Sowsun als sinnlos. Sie lenke bloss von den eigentlichen Problemen ab. Zuletzt twitterte Aussenminister Dmytro Kuleba: «Ein Aufenthalt im Ausland entbindet einen Bürger nicht von seinen Pflichten gegenüber dem Vaterland.» Kurz darauf wurden Beschränkungen der konsularischen Dienstleistungen für männliche Staatsbürger im Alter von achtzehn bis sechzig Jahren angekündigt – mit Ausnahme von Anträgen auf Ausstellung von Papieren für die Rückkehr in die Ukraine.
Doch gerade diese Ankündigung liess manche in der Ukraine eine kleine Genugtuung verspüren. «Das ist ein kleines bisschen Gerechtigkeit», sagt Theo Kowalenko. «Die Ukrainer im Ausland sollen auch ein bisschen fühlen, dass der Krieg hier weitergeht.» Und nicht nur, wie er sagt, auf Social Media darüber posten. Er habe viel Verständnis für diejenigen, die geflüchtet seien. «Aber es gibt eben auch jene, die im Ausland ein ganz normales Leben führen, während wir hier das Gefühl haben, dass wir die ganze Last auf unseren Schultern tragen.»
Im ersten Jahr des Krieges habe er sich über seine eigenen Probleme, seine Finanzen, seine Zukunft kaum Gedanken gemacht. «Ich dachte, dass ich mein Geld ausgeben kann, weil ich am nächsten Tag sowieso getötet werden kann.» Doch langsam stelle er sich Fragen, auf die es keine richtigen Antworten gebe. «Wir wollen nicht aufgeben», versichert Kowalenko. Aber er denkt darüber nach, wofür die Ukraine Gebiete wie Awdijiwka und Bachmut überhaupt noch braucht. Und darüber, wie viel Recht jeder Einzelne auf sein eigenes Glück und seine Selbstverwirklichung hat, während die russischen Angriffe weitergehen, auch im dritten Frühling im Krieg.
Russische Offensive : Wieder Charkiw
Im Oblast Charkiw kommt es an der Grenze zu Russland seit Tagen zu heftigen Kämpfen. Den russischen Truppen ist die Einnahme einiger Dörfer gelungen, die sie schon 2022 kurzzeitig besetzt hatten und die im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive befreit worden waren. Nun fliehen Tausende Zivilist:innen erneut – zunächst in die Millionenstadt Charkiw, die täglich mit Drohnen und Raketen angegriffen wird. Ziel der Offensive könnte sein, bis auf Artilleriereichweite an die Stadt heranzurücken. Russland erreicht damit auch die Verlängerung der aktiven Front und zwingt die Ukraine, Truppen aus anderen Regionen, wo die militärische Lage ebenfalls schwierig ist, zu verlegen.
Zwar stattete US-Aussenminister Anthony Blinken dem Land am 14. Mai einen Solidaritätsbesuch ab – und lieferte abends in einer Bar in Kyjiw auch noch eine Liveperformance des Songs «Rockin’ in the Free World» von Neil Young. Die aktuellen russischen Erfolge führt der ukrainische Militärexperte Olexi Melnik aber direkt auf die Verzögerung bei den Waffenlieferungen aus dem Westen zurück. Und nun versuche Russland, den westlichen Unterstützern vor der Ukrainekonferenz in der Schweiz zu signalisieren, dass es sowieso eine Geldverschwendung sei, die Ukraine militärisch oder wirtschaftlich zu unterstützen, so Melnik. Gleichzeitig könnte das «Déjà-vu» in Charkiw für die ukrainische Armee demoralisierend sein: Manche Soldaten kämpfen nun zum zweiten Mal an derselben Stelle.
Kommentare
Kommentar von Spali
Mo., 20.05.2024 - 12:18
Eben zurück aus der Westukraine., meine Eindrücke sind in diesem Artikel sind bestätigt. Ein grosser Aspekt jedoch fehlt. Der Unterschied Westukraine, Ostukraine. Im Westen spricht man ukrainisch, im Osten russisch. Der Westen war man lange Zeit von Russland erobert und die ukrainische Sprache und Kultur wurde unterdrückt. Nicht zu vergessen das Trauma des Holodomor. Der Osten war immer, auch kulturell und sprachlich russisch. Im Osten gab es die Kohle, die Schwerindustrie und eine stolze Arbeiterschaft. Im Westen fast nur Landwirtshaft. Zu alledem wurden nach dem Kriege viele Sowjetbürger in den Westen verlegt. Die kulturellen, sprachlichen und mentalen Differenzen sind enorm.