Jugend in der Ukraine: Zwischen Schulabschluss und Luftangriff

Nr. 24 –

In der Ukraine wächst eine ganze Generation mit Zerstörung, Verlust und täglichem Sirenenalarm heran. Auf eine kurze Kindheit folgt eine Jugend, die von Ungewissheiten geprägt ist – und für viele auch von grossem Tatendrang.

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Anastasia Schukina mit ihrer Tochter Katerina Tswylinjuk
Katerina Tswylinjuk (rechts) repariert mit den «Kyiv Bats» nach den russischen Angriffen die Schäden. «Ich bin so stolz auf meine Tochter», sagt Anastasia Schukina. 

Eigentlich hätte Katerina Tswylinjuk an diesem Tag eine Berufsmesse besuchen sollen. «Doch das hier war wichtiger», sagt die sechzehnjährige Kyjiwerin. Gemeinsam mit drei weiteren Jugendlichen trägt sie Spanplatten auf den Schultern durchs enge Treppenhaus eines Wohnhauses hinauf in den fünften Stock. Dorthin, wo es nur Stunden zuvor wegen eines Drohnenangriffs gebrannt hat.

Je höher die Gruppe emporklimmt, desto beissender wird der Geruch verbrannten Plastiks. Kurz nach Mitternacht, als die meisten Bewohner:innen schliefen, krachte eine Drohne ins Haus und verletzte sieben Menschen. In einer der Wohnungen hat das Feuer kohlschwarze Wände hinterlassen und fensterlose Räume, die einen halben Tag zuvor noch funktionierende Küchen, Bade- und Schlafzimmer waren.

Die Jugendlichen versammeln sich in einem Raum, der nun einen ungehinderten Blick auf die Äste eines Ahornbaums freigibt, dessen Krone verkohlt und nackt bis zum fünften Stock hinaufragt. Eine Jugendliche, die alle nur mit ihrem Rufnamen Rudik ansprechen und die weder ihren Nachnamen noch ihr genaues Alter veröffentlicht haben möchte, geht zum Rauchen auf den Balkon. Nach dem nächtlichen Angriff hängt er bedrohlich schief an der Aussenmauer.

Aufwachsen im Krieg

Unten schieben freiwillige Helfer:innen Blätter und Äste sowie die Überreste von Fensterscheiben, Wänden, Beton und Möbeln mit Besen und Baggern zu Haufen zusammen. Echos hallen durch den Innenhof, das Klirren von Glasscherben, wiederkehrendes Hämmern, das Prasseln des Regens. Die Frage, ob diese Arbeit nicht gefährlich sei und ob es hier auch eine Aufsichtsperson gebe, löst Gelächter und Schulterzucken aus.

«Sicher ist das Leben in Kyjiw seit Beginn der russischen Invasion generell nicht», sagt Tswylinjuk. «Aber meine grösste Angst ist es nach wie vor, unter russischer Besatzung oder in russischer Haft zu landen.» Tswylinjuk trägt schwarze Funktionskleidung, orange Arbeitshandschuhe, eine Bauchtasche. Ihre dunkelblonden Haare hat sie zusammengebunden, auf der Nase sitzt eine Lesebrille. So genau erklären, was man vor Ort mache, müsse man es den Eltern dann aber auch nicht, sagt sie.

Das Schlimmste – den Drohnenangriff – habe dieses Haus ja schon hinter sich, sagt Rudik. Sie trägt Tarnhosen, um ihren Hals baumelt eine Kette, an der ein silberner ukrainischer Dreizack hängt. Der Aufdruck ihrer Warnweste zeigt eine schwarze Fledermaus – das namengebende Symbol der Gruppe. Rudik hat die «Kyiv Bats» im Februar 2024 mitgegründet, und bis zum Ende ihres 18. Lebensjahrs will sie helfen, wo sie kann. Mit der Volljährigkeit plant sie, sich bei der Armee zu melden.

Die Kyiv Bats koordinieren ihre Aufräumarbeiten mit den Einsatzkräften von Feuerwehr, Rettungsdiensten und anderen Institutionen. Von ihnen erhalten sie die entsprechenden Adressen, sobald nach Drohnen- und Raketenangriffen die gröbsten Trümmer beseitigt sind. Über 600 Mitglieder zählt die Gruppe mittlerweile, ein grosser Teil von ihnen sind Jugendliche. Die Jüngsten sind laut Rudik gerade einmal dreizehn Jahre alt.

Die Kyiv Bats messen Spanplatten ab, schneiden sie mit einer Handkreissäge zu, verschliessen Fenster, um Innenräume vor Wind, Wetter und Vögeln zu schützen. Sie demontieren zerstörte Balkone. «Bei solchen Aufräumaktionen treffe ich immer aktive gleichaltrige Leute, denen nicht alles egal ist», sagt Tswylinjuk. «Das gibt mir Hoffnung. Denn wenn man im Krieg aufwächst, kann man schnell den Glauben an die Menschheit verlieren.»

Über das Aufwachsen im Krieg und ihre Generation dürfe man sich keine Illusionen machen. «Wir müssen viel früher erwachsen werden als Gleichaltrige in Ländern, in denen es keinen Krieg gibt», sagt Tswylinjuk. «Wir haben eine völlig andere Vorstellung und Erfahrung von der Welt.» Sie war bereits dreimal mit den Kyiv Bats im Einsatz. Zum ersten Mal half sie im Juli letzten Jahres, nachdem das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt im Zentrum Kyjiws von einer russischen Rakete getroffen worden war.

Als «beängstigend» beschreibt sie diesen ersten Eindruck – doch schockiert sei sie nicht gewesen, sagt Tswylinjuk. Seit Jahren sehe sie die Zerstörung nun schon in den Nachrichten. In der beschossenen Kinderklinik traf sie zum ersten Mal auf die Kyiv Bats und schloss sich der Gruppe auch gleich an. «Es wäre toller, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten als durch Drohnen- und Raketenangriffe», sagt Tswylinjuk. «Aber das Leben ist nun mal paradox, und darüber sollte man sich nicht zu viel den Kopf zerbrechen.»

Keine Kraft zum Flüchten

Für Katerina Tswylinjuk wurde das freiwillige Engagement zu einem Ausweg aus der Schockstarre. Zu einem Werkzeug, um sich in dieser Welt, die von Unsicherheit geprägt ist, besser zurechtzufinden. «Wenn ich die Zerstörung immer nur in den Nachrichten sehe, lässt mich das unruhig zurück. Wenn ich mich aber engagiere, dann gibt mir das die Kontrolle zurück und die Motivation, weiterzumachen», sagt sie.

Es ist genau diese Motivation zum Weitermachen, Helfen und Handeln, die sie so stolz auf ihre Tochter mache, sagt Anastasia Schukina, die 47-jährige Mutter von Katerina Tswylinjuk. Wenige Tage nach der Aufräumaktion und nachdem die russische Armee drei Tage in Folge das gesamte Land mit Hunderten Drohnen- und Raketenangriffen überzogen hat, sitzen die beiden in einem Kaffeehaus im nördlichen Stadtteil Obolon.

Schukina hat dieselben dunkelblonden Haare wie ihre Tochter, trägt eine weisse Caprihose und eine Brille. Die erneuten Angriffe hätten für die Menschen in Kyjiw wieder mal schlaflose Nächte bedeutet, sagt sie, aber in den Schutzkeller gehe sie mit der Familie schon lange nicht mehr. «Diese Zeit ist vorbei», erklärt Schukina und denkt zurück an die ersten Kriegswochen, als die Gewöhnung an den Ausnahmezustand noch nicht Einzug gehalten hatte. Als die Kämpfe auch hier stattfanden, in Obolon.

Die Szenen im eigenen Stadtteil Ende Februar 2022 hätten sie an einen apokalyptischen Film erinnert, sagt sie. Überall Checkpoints, leere Strassen, vermummte Männer, Waffen, Schüsse. Gerade erst hatte sie ihren neuen Buchhaltungsjob am Mathematikinstitut der Akademie der Wissenschaften angefangen. Für die alleinerziehende Mutter war Flucht keine Option, wie sie erklärt. Schliesslich musste sie ihre Familie über Wasser halten, und ihr habe auch schlichtweg die Kraft dazu gefehlt, sagt Schukina. «Mir war einfach klar, was es bedeutet, mit drei Kindern irgendwohin zu flüchten», sagt sie. «Denn die Auswirkungen auf Ausbildung, Unterbringung und die finanzielle Lage sind immens.»

Mittlerweile sind die Brüder von Katerina Tswylinjuk vierzehn und neunzehn Jahre alt. Alle könnten mehr oder weniger auf sich selbst aufpassen, sagt ihre Mutter. Kopfschüttelnd erinnert sie sich an die ersten Tage nach Beginn des russischen Einfalls, als sie versuchte, Nahrungsmittel aufzutreiben. «Am 23. Februar habe ich den Einkauf auf den nächsten Tag verschoben. Als der Krieg anfing, hatten wir kein Brot daheim», erzählt sie. «Erst nach drei Tagen habe ich ein Geschäft gefunden, das offen war und Lebensmittel verkauft hat.»

«Wo habt ihr die Nacht verbracht?»

Mit Schuldgefühlen im Blick schaut Schukina beim Erzählen ihre Tochter an. Die aber sagt, sie könne sich an all das gar nicht erinnern. «Ich persönlich habe glücklicherweise keine russischen Soldaten gesehen», sagt Katerina Tswylinjuk. «Und ich habe auch nicht verstanden, was da vor sich ging. Es war alles sehr verwirrend und beängstigend.» Nur eine klare Erinnerung aus den ersten Kriegswochen sei ihr geblieben: der Kontrast zwischen dem Gefühl der Angst – und dem Gras, das sich draussen im Kyjiwer Frühling langsam grün färbte.

Nach Kriegsbeginn traf Tswylinjuk die Entscheidung, ihre Muttersprache Russisch nicht mehr zu sprechen und auch ausserhalb des Schulunterrichts ins Ukrainische zu wechseln. «Natürlich ist es schwierig, sein gesamtes Denken umzustellen», sagt Tswylinjuk beim Rundgang durch ihren Stadtteil, «aber es war nötig, und ich fühlte mich viel besser damit.» Entlang der mehrspurigen Strassen und der grauen Plattenbauten verkaufen ältere Frauen Erdbeeren, Aprikosen und Pfingstrosen. «Die Häuser sehen alle sehr sowjetisch aus, aber ich liebe diesen Stadtteil trotzdem», sagt Tswylinjuk, während im Hintergrund wieder der Luftalarm ertönt, wie fast jeden Tag mindestens einmal. Das bunte Stadttreiben lässt sich davon nicht beeinflussen. Mittlerweile hätten sich alle an den Alarm gewöhnt, sagt Tswylinjuk.

Am letzten Freitag im Mai beginnen an Tswylinjuks Schule die Sommerferien. Mit Gesang, Umarmungen und Blumensträussen wird am Lyzeum Nr. 252 in Obolon gefeiert. Ein Moment zwischen Stolz und Wehmut für Eltern und Freund:innen sowie vor allem für die Schüler:innen des Abschlussjahrgangs. Sie tragen traditionelle ukrainische Wyschywankas oder gelbe und blaue T-Shirts und folgen den Gesten einer Lehrerin, die zu ukrainischen Popsongs eine Tanzchoreografie im Tiktok-Stil dirigiert.

Trotz aller Freude über das Ende des Schuljahres – die Müdigkeit ist auch hier spürbar. Die unzähligen Nächte im Schutzkeller und der ständige Alarm hätten bei den Schüler:innen ihre Spuren hinterlassen, sagt Maryna Krywytska, die stellvertretende Direktorin der Schule. An ihrer eleganten schwarzen Bluse ist eine rote Rosenbrosche befestigt. «Nach schweren Bombardements sieht man, dass die Kinder nicht ausgeschlafen sind», so Krywytska. «Nach solchen Nächten fragen wir: Wo habt ihr die Nacht verbracht? Manche in der U-Bahn, andere im Schutzkeller oder im Gang auf einer Isomatte. Es gibt Kinder, die sich nach solchen Nächten erst einmal wieder zurechtfinden müssen.»

Hoffen auf einen friedlichen Himmel

Rund tausend Schüler:innen besuchen das Lyzeum. Zehn Prozent von ihnen haben Eltern, die im Krieg kämpfen oder bereits gefallen sind, schätzt die Vizedirektorin der Schule. Auch mehrere ehemalige Schüler:innen und ein Lehrer sind an der Front gestorben. Für den vor über einem Jahr gefallenen Physiklehrer Taras Demeschko wird an diesem letzten Schultag eine Schweigeminute abgehalten. Unter der Gedenktafel mit seinem Namen, die vor wenigen Tagen am Eingang der Schule angebracht wurde, liegen Blumensträusse.

«Seine letzte Nachricht kam am 27. Februar 2024, wir schrieben noch miteinander», sagt Krywytska. «Ich habe ihn gefragt, wie es ihm geht, und er meinte, dass alles gut wird. Er war so ein positiver Mensch.» Zwei Tage später kam Demeschko ums Leben. Und Maryna Krywytska fürchtet, dass künftig noch weitere Gedenktafeln folgen könnten. «Viele unserer Schüler:innen werden irgendwann ebenfalls an der Front kämpfen», sagt sie.

Katerina Tswylinjuk hat noch ein letztes Schuljahr vor sich. «Natürlich kann jederzeit alles zusammenbrechen, deshalb ist es wichtig, nicht allzu grosse Erwartungen zu haben», sagt sie. Und dennoch habe sie beschlossen, einen Plan für ihr Leben zu machen. Einen groben Plan zumindest, wie sie sagt. Eine Arbeit in der humanitären Hilfe würde ihr gefallen. Aber zunächst auch einfach für den anstehenden Sommer: Baden am See, viel Zeit mit ihren Freund:innen.

Nach einem weiteren Schuljahr, das der russische Angriffskrieg dominiert hat, sehnen sich Schülerinnen und Lehrer nach einer Pause – und nach einem Sommer, der sie für einen Moment den Krieg vergessen lässt. Symbolisch klingelt an diesem letzten Schultag noch einmal die Schulglocke. Dann gibt die Direktorin den Schüler:innen noch etwas Letztes mit auf den Weg: Sie wünscht ihnen in diesem Sommer einen «friedlichen Himmel», keine Angriffe, keinen Luftalarm.