Elektronisches Patientendossier: Wer haftet? Wer zahlt?

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Das grösste digitale Gesundheitsprojekt der Schweiz steht in den Startlöchern: Mit dem elektronischen Patientendossier sollen wir die Kontrolle über unsere Gesundheitsdaten erhalten. Weshalb das Projekt zum Scheitern verurteilt scheint.

Für ÄrztInnen bestehen keinerlei Anreize, beim elektronischen Patientendossier mitzumachen: Krankenakten in einer Zürcher Gruppenpraxis. Foto: Christian Beutler, Keystone

Kennen Sie das elektronische Patientendossier (EPD)? Falls nicht, geht es Ihnen wie zwei Dritteln der Schweizer Bevölkerung, wie das jüngste eHealth-Barometer des Forschungsinstituts GfS zeigt. Dabei handelt es sich beim EPD um das grösste digitale Projekt des Landes: Seit 2007 arbeitet eHealth Suisse, die Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen, daran, sämtliche persönlichen Gesundheitsinformationen in einem einzigen virtuellen Dossier zusammenzuführen, das auf einem einheitlichen digitalen Informationssystem beruht. Seit 2017 ist das entsprechende Bundesgesetz (EPDG) dazu in Kraft, diesen April sollte es mit dem Anschluss aller Spitäler endlich losgehen. Und dann informiert eHealth Suisse einen Tag vor Weihnachten: «Mit einem schweizweiten EPD-Start auf Mitte April 2020 ist nicht zu rechnen.» Erleidet das Projekt schon vor dem Start Schiffbruch?

Die Idee selbst überzeugt: PatientInnen erhalten mit dem EPD die Kontrolle über ihre eigenen Gesundheitsdaten. Spitäler, Ärztinnen, Therapeuten, Heime, Spitex, Labore und ApothekerInnen können Informationen einfach und sicher untereinander austauschen. Die Zugriffsrechte erteilen die PatientInnen, elektronisch verwaltet werden die Dossiers von voraussichtlich acht nicht gewinnorientierten Stammgemeinschaften, in denen sich Gesundheitsfachleute und -organisationen zusammenschliessen. Dank dem EPD sollen sich sowohl die Qualität der Behandlung als auch die Sicherheit für PatientInnen erhöhen, die Gesundheitskosten hingegen sinken.

Freiwillig – wie lange noch?

Tatsächlich stehen der Realisierung gleich mehrere gewichtige Stolpersteine im Weg. Die zentrale Hürde: Das EPD ist obligatorisch für Spitäler und andere Institutionen, die stationäre Leistungen zulasten der Krankenkassen abrechnen – für frei praktizierende ÄrztInnen sowie PatientInnen hingegen freiwillig. Positive Effekte kann es aber nur entfalten, wenn die darin gespeicherten Daten möglichst vollständig sind. Und wenn möglichst alle BürgerInnen es nutzen. Gelinge es nicht, die Bevölkerung zu einer «nachhaltigen Anwendung» des EPD zu bewegen, so ein im Auftrag von eHealth Suisse und anderen publiziertes White Paper vom Mai 2019, «kann dies den Erfolg des gesamten nationalen Projekts gefährden».

Nachdem ein erster Anlauf zu einem elektronischen Patientendossier 2003 am Widerstand der Spitäler gescheitert ist, hat man diese jetzt zwangsverpflichtet – wer sich bis zum 15. April 2020 keiner Stammgemeinschaft angeschlossen hat, fällt nicht nur aus der Spitalliste, sondern erhält auch die Behandlungskosten nicht mehr zurückerstattet. Vor wenigen Tagen haben Bund und Kantone immerhin signalisiert, dass sie diese Bestrafung als «unverhältnismässig» betrachten.

Auf den ambulanten Bereich wächst derweil der Druck. «Möglicherweise bleibt die Freiwilligkeit bei Ärzten nicht gewährleistet», sagt Adrian Schmid, der oberste Koordinator von eHealth Suisse. Im Parlament sind gleich mehrere Motionen eingereicht worden, die ein Obligatorium für alle fordern. Vom Nationalrat hat eine davon in der letzten Herbstsession grünes Licht erhalten. Bereits im Sommer hat das Parlament einen ersten Schritt in dieselbe Richtung beschlossen: Wer in der Schweiz neu die Zulassung als ÄrztIn erhalten will, muss sich zwingend einer Stammgemeinschaft anschliessen. Und die ÄrztInnen selbst? Sie sind gespalten, wie eine kurz vor Jahresende publizierte Studie des Commonwealth Fund zur internationalen Gesundheitspolitik zeigt: 46 Prozent aller Hausärzte und Allgemeinpraktikerinnen planen, sich dem EPD anzuschliessen – ebenso viele lehnen das grundsätzlich ab.

Hoher Zusatzaufwand

Gut möglich, dass die Zahl der VerweigerInnen sogar noch steigt. Bei näherer Betrachtung besteht für ÄrztInnen keinerlei Anreiz, beim EPD mitzumachen – im Gegenteil. Die Kosten für eine Anbindung sind hoch. Laut Ärzteverband FMH kostet die Umstellung auf das EPD eine Hausarztpraxis 40 000 Franken. Noch immer dokumentiert fast jedeR Dritte unter den ÄrztInnen die Krankengeschichte der PatientInnen auf Papier. Doch nicht allein die Einrichtung eines elektronischen Praxissystems kostet, teuer und aufwendig sind auch die mit dem Anschluss ans EPD notwendigen IT-Sicherheitsvorkehrungen. Gemäss den «Minimalanforderungen» des FMH muss jede Arztpraxis sowohl eine eigene Datensicherheitsverantwortliche als auch einen IT-Verantwortlichen haben, der für Betrieb und Unterhalt der IT-Infrastruktur zuständig ist. Die Mitarbeitenden müssen punkto Datenschutz umfassend geschult werden. Präventiv sollen darüber hinaus «Vorkehrungen für die Behandlung von Sicherheitsvorfällen» getroffen werden. Am besten also gleich «externe Dienstleister beauftragen und überwachen».

Nicht unbegründet ist auch die Angst vieler ÄrztInnen, dass mit dem EPD ein hoher administrativer Zusatzaufwand auf sie zukommt. Schliesslich nützt es ja nur, wenn die darin aufgeführten Informationen möglichst vollständig und stets aktuell sind. Noch sollen erst Daten ab Stichtag Eröffnung eingestellt werden – irgendwann aber werden auch rückwirkend Daten erfasst werden müssen. Zwar sind grundsätzlich die PatientInnen selbst dafür verantwortlich, ihr EPD zu aktualisieren und zu vervollständigen. Doch haben sie die Möglichkeit, diese Verantwortung zu delegieren. Laut dem jüngsten eHealth-Barometer wollen mehr als zwei Drittel all jener, die überhaupt ein EPD eröffnen würden, dies am liebsten beim Hausarzt respektive der Hausärztin deponieren.

Überforderte PatientInnen

Denn so wünschenswert es grundsätzlich ist, dass wir alle mit dem EPD die Hoheit über unsere eigenen Gesundheitsdaten erhalten – viele überfordert der komplexe Anspruch, der mit deren Verwaltung einhergeht. Besonders jene, die am meisten davon profitieren würden: chronisch kranke, ältere oder demente Personen, aber auch bildungsferne oder randständige Menschen und solche, die etwa aufgrund ihres Migrationshintergrunds kaum mit unserem Gesundheitswesen vertraut sind.

«Es bringt nichts, wenn 50 000, 500 000 oder 5 Millionen Dossiers eröffnet sind, aber nur 10 oder 20 Prozent regelmässig genutzt werden», heisst es im erwähnten White Paper. Das EPD kann nur funktionieren, so das Fazit, wenn es gelingt, die «elektronische Gesundheitskompetenz» der Bevölkerung zu erhöhen. Will heissen: wenn jede und jeder mehr Eigenverantwortung für die eigene Gesundheit und deren digitale Verwaltung übernimmt. Aber wie soll das funktionieren?

Mit den geforderten Gesundheitsportalen bei Stammgemeinschaften, die den PatientInnen zusätzliche Dienstleistungen anbieten sollen, ist in absehbarer Zukunft jedenfalls nicht zu rechnen, wie eine Nachfrage bei der Axsana ergibt, die die Stammgemeinschaft XAD führt. Und den im White Paper hoch gelobten Gesundheitsapps, mit denen PatientInnen via Smartphone ihr Wohlbefinden fördern sollen, steht laut eHealth-Barometer eine Mehrheit der SchweizerInnen kritisch gegenüber. Zumindest finden sie, diese Daten hätten im EPD nichts zu suchen.

Ihr Misstrauen ist begründet: Bereits haben KrankenkassenlobbyistInnen im Parlament mehrere Motionen eingereicht, die deutlich machen, dass die Versicherer an solchen Daten interessiert sind. CVP-Nationalrätin Ruth Humbel etwa fordert eine gesetzliche Rechtsgrundlage dafür, gesundheitsbewusstes Verhalten belohnen zu können. Namentlich, wenn Versicherte «nachweislich Massnahmen zur Erhaltung ihrer Gesundheit treffen» und «die Daten in ihr elektronisches Patientendossier einstellen».

Ungeregelte Finanzierung

Zwar haben Krankenversicherer gemäss EPDG keinen Zugriff auf das EPD und können von den Versicherten auch nicht dazu ermächtigt werden. Aber die Frage nach der Sicherheit der gespeicherten Daten bleibt ein zentraler Stolperstein. Trotz aller Massnahmen, so eine Bedrohungs- und Risikoanalyse des Bundesamts für Gesundheit, «wird es nicht gelingen, jede unberechtigte Einsicht in das EPD auf Dauer zu verhindern».

Auf den Stammgemeinschaften ruht eine immense Verantwortung: Sie sind zuständig für die Datenspeicher sowie für das Register, das regelt, wer grundsätzlich auf ein EPD zugreifen darf. Über sie läuft auch die Vergabe der elektronischen Identifikationsmittel, über die der zweifach gesicherte Zugang zum EPD erfolgt. Zusammen mit den Providern der digitalen Plattform, auf der das EPD läuft – aktuell sind das Post, Swisscom und die Winterthurer IT-Firma Bint –, sind die Stammgemeinschaften ausserdem für die grundsätzliche Sicherheit des Systems verantwortlich. Wer im Fall eines Datenlecks haftet, ist dagegen nicht klar. «Es müsste im konkreten Fall geklärt werden, was die Ursache ist und ob EPD-Teilnehmer ihre Pflichten verletzt haben», so eHealth-Suisse-Koordinator Schmid.

Weitgehend ungeregelt ist auch, wie das EPD über die Lancierung hinaus finanziert werden soll. Klar ist nur: Der Bund hat für das EPD eine Anschubfinanzierung von 26,6 Millionen Franken beigesteuert und trägt mit maximal 30 Millionen zum Aufbau der Stammgemeinschaften bei. Danach sollen diese selbsttragend sein. Samuel Eglin, Geschäftsführer der Axsana, schätzt die jährlichen Betriebskosten für die XAD auf 10 bis 15 Millionen Franken – vorausgesetzt, dass sie in ihrem Einzugsgebiet von mehr als der Hälfte der Schweiz rund 5 Millionen EPD und bis zu 16 000 Spitäler, Arztpraxen, Heime und Spitex-Anbieter wird verwalten können.

Für PatientInnen soll das EPD kostenlos sein, ÄrztInnen, Spitäler und andere Gesundheitseinrichtungen müssen der XAD für den Anschluss ans EPD hingegen je nach Grösse eine einmalige Eintritts- und Anbindungsgebühr von zwischen 200 und 17 000 Franken sowie jährliche Pauschalen von 200 bis 230 000 Franken bezahlen. Ein weiterer Kostenfaktor sind die elektronischen Identifikationsmittel für die PatientInnen. Wer bezahlt sie? Gelder des Bundes sind dafür laut Schmid keine vorgesehen. Und Eglin betont, dass diese Kosten nicht von den Stammgemeinschaften getragen werden können. Bereits vor Jahresfrist machte der Bundesrat ausserdem deutlich, es sei «nicht abschätzbar, ob die Verwendung des EPD mittel- bis längerfristig zu spürbaren Einsparungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung führen wird».