HausärztInnen: Vom Halbgott zum Koordinator

Nr. 13 –

Sie sind unzufrieden, und die Zukunft verheisst für ihren Beruf wenig Gutes. Am Samstag wird demonstriert.

Martin Walter ist Facharzt für Innere Medizin in Grenchen. Bald wird er pensioniert. Wird er einen Nachfolger, eine Nachfolgerin für seine Praxis finden, um seine mehr als tausend PatientInnen zu betreuen? Wie sieht die ärztliche Versorgung der Region aus, da auch das Grenchner Spital gefährdet ist? Walter geht am kommenden Samstag auf die Strasse, an die nationale Demo der Hausärzte und Hausärztinnen in Bern. «Im Zentrum der Forderungen», sagt er, «muss die Zukunft der Grundversorgung stehen.»

Auch für Klaus Bally, Arzt für Allgemeine Medizin in Basel, ist die Versorgung das zentrale Anliegen. «Es soll nicht um unsere Einkommen gehen, diese sind immer noch recht hoch.» Im Schnitt verdienen AllgemeinpraktikerInnen rund 170 000 Franken im Jahr. Ständische Pfründenpolitik, sagt Bally, würde in der Öffentlichkeit kaum Unterstützung finden. Wolfgang Lauterburg, Arzt für Allgemeine Medizin in Bern, nennt als Grund für die Demo einen allgemeinen Unmut: «Alle sind sauer auf Bundesrat Pascal Couchepin.» Selber hält er dies allerdings für eine zu personalisierte Sicht.

Auf rund 5000 bis 7000 wird die Zahl der Hausarztpraxen in der Schweiz geschätzt; sie erzielen einen Umsatz in der Grössenordnung von 1,5 Milliarden Franken und behandeln neunzig Prozent aller Beschwerden abschliessend. Pascal Couchepin tritt den MedizinerInnen im Kampf gegen die steigenden Gesundheitskosten nahe; den HausärztInnen im Besonderen. Etwa mit dem Zulassungsstopp: Couchepin verlängerte den Entscheid seiner Vorgängerin Ruth Dreifuss, keine neuen Praxen zu bewilligen - obwohl die Zahl der allgemeinen Praxen sinkt. Jährlich müssten 160 Praxen übernommen werden, damit die Versorgungsdichte gehalten werden kann. Im Schnitt der letzten Jahre waren es aber nur noch 127, im vergangenen Jahr gar nur 71.

Es mangelt an Nachwuchs. Erstens ist die Zahl der Ausbildungsplätze beschränkt, zweitens wählen immer weniger StudienabgängerInnen den Weg in die Allgemeinpraxis. Gut die Hälfte der AbsolventInnen sind Frauen. Diese suchen eher als Männer, die früher die grosse Mehrheit der ÄrztInnen stellten, Teilzeitstellen oder Fachärztinnenstellen mit geregelter Arbeitszeit.

Auch der vor zwei Jahren eingeführte Ärztetarif Tarmed macht den PraktikerInnen zu schaffen. Laut Wolfgang Lauterburg sind die Allgemeinpraktiker bei der Abrechnung gegenüber SpezialistInnen benachteiligt. «Tarmed hätte die Leistungen der Hausärzte höher bewerten sollen», sagt er. «Doch dann wurde das System durch die operierenden Ärzte wieder umgestossen.» Er findet es ärgerlich, dass niemand einen Anlauf unternehme, Tarmed, das er für ein «gescheitertes System» hält, zu reformieren.

Das Fass zum Überlaufen brachte schliesslich Couchepins Entscheid vom November 2005, den Labortarif zu senken. Das Bundesamt für Gesundheit ortete wegen technischer Innovation ein Sparpotenzial von jährlich sechzig Millionen Franken (bei insgesamt fünfzig Milliarden Franken Gesundheitskosten). Viele HausärztInnen betreiben ihr eigenes Labor und sind vom Entscheid betroffen. Dabei geht es, sagt Klaus Bally, nicht nur um die zusätzliche Einkommensquelle: «Präsenzlabors schaffen Klarheit während der Konsultation. Externe Labors bedingen oft zwei Konsultationen, was nicht günstiger ist.»

Einst nannte man die Medizin einen «freien Beruf». Heute müssen ÄrztInnen zahlreiche Auflagen erfüllen und sind einem grossen administrativen Aufwand im Verkehr mit Krankenkassen und Behörden ausgesetzt. Bally: «Ich verbringe jeden Abend zwei Stunden mit dem Diktieren von Berichten für Kassen und Sozialversicherungen. Die Kassen wollen genau wissen, was verschrieben wird. Immer wieder müssen wir begründen, warum wir eine Physiotherapie verschreiben oder Spitex anordnen.»

Lauterburg ergänzt: «Zum wirtschaftlichen kommt der fachliche Druck. Es kränkt einen Arzt, wenn er nach langer Ausbildung seine fachliche Kompetenz in Frage gestellt sieht, weil die Kassen seine Therapien überprüfen.» Als «eigenartige Auswüchse» bezeichnet Bally die so genannten Case ManagerInnen, die im Auftrag der Kassen die Ärzte kontrollieren. Könnte die Einführung einer Einheitskasse, wie sie eine Volksinitiative der SP fordert, die bürokratische Belastung mildern? Viele ÄrztInnen fürchten, die Entlastung gehe mit mehr Kontrolle einher. Lauterburg ist eher die Ausnahme, wenn er sagt: «Ich habe keine Angst vor staatlicher Kontrolle. Bislang habe ich auch mit der staatlichen Suva nie Probleme gehabt.»

Dahingeschmolzen ist auch das hohe Sozialprestige der Doktores. Das nagt am Selbstbewusstsein des Standes, doch ist es für viele auch eine Entlastung, wenn die Arbeit mit dem Stethoskop nicht mehr Berufung, sondern bloss normale Arbeit ist. Damit sinkt aber auch die Bereitschaft, Überstunden in der eigenen Praxis und Notfalldienste für eine zunehmend anspruchsvolle Kundschaft zu leisten - insbesondere, seit die Zuschläge für Nacht- und Wochenendeinsätze gestrichen wurden. Wolfgang Lauterburg mahnt: «Der Hausarztbereich ist langfristig gefährdet. Die fachliche Kompetenz des Allgemeinmediziners ist nicht mehr so gefragt. Bislang waren wir gut ausgebildete Fachärzte und erledigten selbständig einen grossen Teil der medizinischen Probleme. Nun geraten wir immer mehr in die Lage, eine Triagestelle zu sein. Vielleicht muss das Berufsbild umgewertet werden.» Es gehe wohl in Zukunft mehr darum, die PatientInnen in ihrer psychosozialen Umgebung wahrzunehmen und mit ihnen die bestmögliche Behandlung zu finden.

Auch Walter erlebt einen grossen Wertewandel: «1981, als ich meine Praxis eröffnete, war ein Internist hoch angesehen; die Innere Medizin galt sozusagen als Spitze der Ausbildung. Dieses breite Wissen wurde durch die Aufsplitterung in immer mehr Spezialrichtungen teilweise entwertet.» Heute sei er viel stärker dafür zuständig, die Behandlung seiner Patienten zu koordinieren. Das werde von seinen PatientInnen durchaus gewürdigt, nur: «Wir haben diese neue Aufgabe in der Öffentlichkeit bislang nicht vermitteln können.» Walter wurde in den ersten Jahren seiner Praxis etwas desillusioniert: «Ich wartete immer auf die schweren Fälle, aber es kamen Schnupfen und Halsweh.»

Die Ausbildung an den Unikliniken und Spitälern fokussiert auf eine technische und intensive Medizin: Diese bringt Prestige und Forschungsgelder (wie der Streit der Universitätskliniken um die Spitzenmedizin illustriert). Die Ausbildung zum Hausarzt demgegenüber wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt.

Jüngstes Beispiel für diese Tendenz ist die Aufteilung des Departements für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich in vier Departemente im vergangenen Dezember, womit «der zunehmenden Spezialisierung Rechnung getragen» werden soll. Die Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin reagierte in «grosser Sorge»: Künftig sei «die Voraussetzung für eine fachlich ausreichende internistische Weiterbildung ungenügend»; der Mangel an HausärztInnen werde sich verschärfen.

Klaus Bally engagiert sich am Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel (IHAMB). «Mit Angeboten in Hausarztmedizin versuchen wir, die StudentInnen für diesen Beruf zu begeistern», sagt er. Dazu gehören Pflichtveranstaltungen, in denen Rettungsmassnahmen, einfache Untersuchungen, der Umgang mit sterbenden PatientInnen und der Umgang mit DrogenkonsumentInnen gelehrt werden. Daneben gibt es so genannte Tutorials. Die Studenten assistieren einen halben Tag pro Woche in der Praxis des Hausarztes und lernen so dessen Alltag kennen. «Das erleichtert den Einstieg in diesen Beruf», sagt Bally.

Das Manko in der Ausbildung von HausärztInnen wird allgemein erkannt. In Bern gibt es inzwischen eine Fachstelle für Hausarztmedizin, und Zürich kündigt an, «mittelfristig» werde eine Professur für Hausarztmedizin angestrebt. Das Fach würde dann die akademischen Weihen erhalten.