Durch den Monat mit Nora Hunziker (Teil 5): Wer kontrolliert den öffentlichen Raum?

Nr. 22 –

Die öffentliche Bespassung habe in den letzten Jahren stark zugenommen, sagt Gassenarbeiterin Nora Hunziker. Und wünscht sich mehr ungestaltete Orte, wo sich die Menschen selbst organisieren müssen.

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Portraitfoto von Nora Hunziker
«Die einen haben eine Lobby, die anderen nicht. Die einen stören sich an den anderen, die woanders aber nicht sein können»: Nora Hunziker.   

WOZ: Nora Hunziker, wer nutzt den öffentlichen Raum?

Nora Hunziker: Wahrscheinlich alle. Es gibt aber grosse Unterschiede in der Zeitdauer. Manche nutzen ihn, manche passieren ihn bloss, und manche brauchen ihn – im Sinne von darauf angewiesen sein. Das geht in den Diskussionen um die Nutzung des öffentlichen Raums manchmal vergessen, wenn es heisst, er müsse für alle da sein: Die einen sind viel stärker auf ihn angewiesen als andere. Und: Die einen haben eine Lobby, die anderen nicht. Die einen stören sich an den anderen, die woanders aber nicht sein können. Leute mit Geld haben eine grössere Kontrolle über den öffentlichen Raum, als man vielleicht denken würde.

WOZ: Wie kontrollieren sie ihn?

Nora Hunziker: Es ist kein direktes Kontrollieren, eher ein vorauseilendes Handeln seitens der Stadt Bern und der Ordnungsinstanzen wie der Polizei oder der mobilen Interventionsgruppe Pinto. Wir hören oft das Argument, dass sich die Leute gestört fühlen könnten. Dass sie sich nicht mehr sicher fühlten. Dass sich alte Menschen nicht mehr trauten, auf ein Bänkli zu sitzen … Aber ich bin gar nicht so sicher, ob solche Sorgen bei den Leuten wirklich so weit verbreitet sind. Es geht auch um Verhältnismässigkeit: In einem Quartier hat eine Person die Polizei gerufen, weil sie sich an einer Gruppe Biertrinkender gestört hat. Da nutzt also eine Gruppe von Menschen den öffentlichen Raum auf eigentlich legale Weise, und es braucht nur eine Person, die das stört, dann ist fertig.

WOZ: Ein bisschen so wie bei Lärmklagen …

Nora Hunziker: Ja. Ich kann mittlerweile verstehen, wenn man unter Lärm leidet, auch wenn ich mich dann selbst manchmal bünzlig finde. Es geht aber auch hier um das Verhältnis: Einerseits kann man sich fragen, welcher Lärm einen stört und welcher nicht. Regt man sich auch über Baustellen auf, über das volle Wankdorfstadion oder über johlende Junggesellenabschiede? Ich habe den Eindruck, es geht bei den Klagen oft darum, gewisse Menschen und Verhaltensweisen nicht sehen zu wollen.

WOZ: Und andererseits?

Nora Hunziker: Andererseits finde ich, dass wir eigentlich ja miteinander reden können. Man kann sich auch beklagen, ohne gleich die Polizei zu rufen. Oft haben die Leute Respekt oder sogar Angst, die ich nicht nachvollziehen kann: Wieso geht man nicht einfach hin und sagt, wenn einen etwas stört?

WOZ: Welchen Einfluss haben eigentlich Pop-ups auf die Nutzung des öffentlichen Raums?

Nora Hunziker: In den letzten Jahren hat die öffentliche Bespassung stark zugenommen. Ich verstehe nicht, wieso so viele hippe, vermeintlich linke Leute diese Orte betreiben und hypen. Pop-ups haben einen grossen Einfluss darauf, wo sich die Menschen aufhalten. Auch wenn es heisst, es gebe keinen Konsumzwang: Sitz mal irgendwo, wo sich alle ihre fancy Drinks holen, und du bist die einzige Person mit einem Dosenbier. Orte wie öffentliche Pärke werden in Bern zunehmend auf diese Art bespielt – gerade im Sommer. Und im Winter gibt es den Sternenmarkt, der über eine immer längere Zeitspanne den öffentlichen Raum besetzt. Es ist absurd: Prekär lebende Menschen werden verdrängt, damit auf dem Markt andere Leute unter prekärsten Bedingungen arbeiten können. Und am Ende des Tages hat einfach jemand ein volles Portemonnaie.

WOZ: Können Zwischennutzungen auch ein gutes Konzept sein?

Nora Hunziker: An sich kann es lässig sein, wenn an einem Ort für eine kurze Zeit etwas Neues passiert – und dann wieder verschwindet. Aber wenn es vor allem darum geht, Geld zu verdienen … Manchmal denke ich, das hat auch damit zu tun, dass auf keinen Fall irgendwo eine Unordnung entstehen soll. Und dass es deswegen immer weniger ungestaltete Orte gibt, wo Unerwartetes passieren kann und sich die Leute selbst organisieren müssen.

WOZ: Wie ist der öffentliche Raum für jemanden, der kein oder wenig Geld hat?

Nora Hunziker: Wir wissen, dass Sucht schnell ein Thema wird. Du hast wenig Geld für sonstige Aktivitäten, also stellt sich irgendwann die Frage: Was machst du den ganzen Tag? Viele treiben sich rum, aber so richtig weit kommst du in der Regel nicht, weil du ohne Geld nicht ÖV fahren kannst. Jene, die gern unter Leuten sind, verbringen oft viel Zeit am Bahnhof. Manche sind bei den Schachbrettern, einige wenige sind sehr gut organisiert und verbringen ihre Tage etwa im Quartiertreff. Armut bedeutet aber nicht unbedingt, viel Zeit im öffentlichen Raum zu verbringen, manchmal ganz im Gegenteil.

WOZ: Warum?

Nora Hunziker: Wenn du Kinder hast und arm bist, dann bleibst du eher zu Hause und schaust, dass du alles organisieren kannst, um über die Runden zu kommen. Oft geht zudem vergessen, dass das Abhängigsein von Ämtern unglaublich viel Zeit verschlingt: Termine, Bewerbungen, irgendein Formular abgeben, dann werden mal einfach so hundert Franken weniger ausbezahlt, dem musst du nachgehen, oder du verstehst etwas nicht und versuchst ewig, an eine Information zu kommen. Eine Klientin sagte mir kürzlich: Eigentlich ist das ein Fulltime-Job.

Nora Hunziker (32) ist Sozialarbeiterin bei der Kirchlichen Gassenarbeit in Bern.