Gastbeitrag: Der Schlüssel zur EU liegt in der Schweiz

Nr. 47 –

Ein neues Vertragspaket mit der EU gibt es nur mit einer Stärkung der sozialen Sicherheit. Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr fordert die Wirtschaftsverbände auf, sich endlich zu bewegen.

Nun soll es also wieder vorwärtsgehen im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Der Bundesrat will Verhandlungen aufnehmen. Wir brauchen ein neues Vertragspaket. Für den Wirtschafts-, Bildungs- und Kulturkanton Zürich ist es zentral, dass die Schweiz am EU-Binnenmarkt und an den EU-Programmen teilnehmen kann. Das sage ich als Regierungsrätin und Mitglied der Europakommission der Konferenz der Kantonsregierungen.

Als Sozialdemokratin füge ich hinzu: Der Schlüssel zur Lösung liegt in der Innenpolitik – genauer: bei der Bereitschaft der Wirtschaftsverbände, die weitere Öffnung des Landes sozialpolitisch abzufedern. Europapolitik ist im Kern einfach: Der Bundesrat verhandelt. Die Bevölkerung entscheidet. Sie sagt Ja, wenn den Menschen aus der Annäherung zu Europa keine Nachteile erwachsen.

Die nationalen Wahlen zeigten dabei in aller Deutlichkeit, welches Bedürfnis für die Bevölkerung im Zentrum steht: Es waren Wahlen im Zeichen der Sicherheit. Die mit Abstand grössten Gewinne gingen an SVP und SP – also an zwei Parteien, die beide ihren Wählerinnen und Wählern versprechen, sich für mehr Sicherheit einzusetzen.

Zweierlei Sicherheit

Allerdings vertreten die beiden Parteien zwei grundlegend verschiedene Konzepte von Sicherheit: Die SVP will den Menschen mehr Sicherheit geben, indem sie gegen Veränderungen kämpft. Die SP will den Menschen mehr Sicherheit geben, damit diese in der Lage sind, sich auf Veränderungen einzulassen.

Wenn die Mitte, die FDP und deren kleine Schwester, die GLP, nicht auf komplett verlorenem Posten stehen wollen, müssen sie sich für eines der beiden Verständnisse von Sicherheit entscheiden. Die Schlüsselerkenntnis aus den Wahlen ist simpel: Vorlagen, die das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht berücksichtigen, finden keine Mehrheiten.

Portraitfoto von Jaqueline Fehr
Jaqueline Fehr, Regierungsrätin

Der Veränderungsboykott der SVP mag dabei auf den ersten Blick verlockend sein, schliesslich verunsichert uns nichts mehr als Veränderungen. Dementsprechend lassen sich mit diesem Konzept politische Erfolge feiern. Das Land steuert damit aber umweglos in die Sackgasse. Wer sich nicht verändert, bleibt stehen. Wer stehen bleibt, wird abgehängt. Das kann nicht im Interesse von Parteien sein, die sich dem Fortschritt und der Zukunftsgestaltung verpflichtet sehen.

Deshalb ist der andere Weg alternativlos: Die Menschen brauchen mehr Sicherheit, damit sie Veränderungen wagen können. Das betrifft den Lohn, die Kaufkraft, die Chancen auf dem Stellenmarkt, die Gestaltung der Zuwanderung. Damit sind wir mitten im Zentralthema der neuen Legislatur: der Europapolitik. Es ist elementar für die Schweiz und für Zürich, dass wir das Verhältnis zur EU auf ein sicheres Fundament stellen.

Sozialer Ausbau nötig

Die Vorverhandlungen, die die Schweiz und die EU in den letzten Monaten geführt haben, brachten einiges in Bewegung, auch beim Lohnschutz. Beide Seiten anerkennen den Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Auf dieser Basis bietet die EU der Schweiz eine «Non-Regression Clause» an, die sicherstellen soll, dass der Lohnschutz nicht hinter das Erreichte zurückfällt.

Solche Bewegungen sind gut. Ein mehrheitsfähiges europapolitisches Paket ist damit aber noch nicht geschnürt. Dazu braucht es mehr. Die Stimmbürgerin schreibt nur dann ein Ja zu einer weiteren Annäherung an die EU auf den Stimmzettel, wenn die Gleichung zwischen Öffnung und Sicherheit für die Stimmenden aufgeht. Was folgt daraus?

Für die politischen Kulissenschieber:innen ist die Antwort simpel. Sie fordern, der Bundesrat und seine Unterhändler:innen müssten der EU verstärkt Beine machen. Doch Verhandlungen sind Kompromisse. Daran ändert auch eine martialische Rhetorik nichts. Fakt ist: Wenn wir auf die Sorgen der Bevölkerung, etwa die Angst vor Lohndruck, wirkungsvoll antworten wollen, müssen wir das eigenständig tun, und zwar innenpolitisch. Nicht die EU muss dafür sorgen, dass die Gleichung zwischen Öffnung und Sicherheit aufgeht. Dafür sind wir selber verantwortlich.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Ein mehrheitsfähiges Paket besteht einerseits aus einem möglichst guten Vertragswerk mit der EU und andererseits aus innenpolitischen Reformen, die dort Sicherheit schaffen, wo mehr Konkurrenz und mehr Öffnung den Status quo der Menschen bedroht.

Die Frage an alle gestaltungswilligen Kräfte lautet daher: Wie können wir selber – innenpolitisch autonom, ergänzend zum Vertragstext – Sicherheiten schaffen? In welchen Branchen braucht es zusätzliche Mindestlöhne? Wo sind mehr allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge nötig? Mit welchen Massnahmen können wir die sinkende Kaufkraft kompensieren? Wie dämpfen wir über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf den Fachkräftemangel? Und was machen wir mit den Menschen in der Schweiz, die sich an den Rand gedrängt und abgehängt fühlen?

Liberale Parteien reagieren auf solche Fragen reflexartig mit ihrer ordnungspolitischen Litanei. Damit verkennen sie die Realität: Wer Veränderung und Fortschritt durch mehr wirtschaftspolitische Öffnung will, kommt nur zum Ziel, wenn er gleichzeitig Antworten hat auf die Verunsicherung – und zwar handfeste Antworten, keine Beschwichtigungen.

Das Bündnis erneuern

Es ist gegenwärtig Mode, mit dem Finger auf die «sturen Gewerkschaften» zu zeigen. Sicher: Ihr Kleinkrieg um Anmeldefristen und Spesenregelungen für polnische Bauarbeiter:innen kann einem auf die Nerven gehen. Doch noch viel mehr auf die Nerven gehen einem die Wirtschaftsverbände in ihrer Blockadepose. Sie beteuern zwar bei jeder Gelegenheit, wie existenziell wichtig für den Wirtschafts- und Industriestandort die Weiterentwicklung des bilateralen Weges sei. Gleichzeitig stellen sie sich aber taub, sobald es um innenpolitische Reformideen geht.

Die rhetorische Inbrunst, mit der die Verbandsoberen im selben Atemzug die Notwendigkeit eines Vertragspakets und die Ungeheuerlichkeit von kompensatorischen Massnahmen beschwören – sie ist so vehement wie skurril. Denn natürlich ist auch den Verbänden bewusst: Das eine gibts nicht ohne das andere. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich just die Wanderprediger:innen der Eigenverantwortung aus der Verantwortung stehlen und diese billig dem Bundesrat zuschieben. Dabei wissen alle: Der Ball liegt im Feld der Sozialpartner:innen.

Das Bündnis zwischen Freisinn und Sozialdemokratie, zwischen Gewerbe und Gewerkschaften bestimmte über Jahrzehnte die Europapolitik der Schweiz. Sicherheit gegen Öffnung war der Deal. Wenn es neue Abkommen mit der EU geben soll, dann muss dieser Deal neu geschlossen werden. Ohne sozialpolitische Absicherungen gibt es keine Mehrheit für mehr Öffnung und damit mehr Konkurrenz.

Man kann diese Realität verdrängen. Man kann sie beklagen. Doch das hilft alles nicht weiter. Es sind ja nicht die Gewerkschaften oder die Wirtschaftsverbände, die die Stimmzettel ausfüllen. Es sind die Stimmbürger:innen. Und diese wollen die Versicherung, dass «mehr Europa» nicht zu ihren Lasten geht, sondern zu ihren Gunsten ist.

Regierungsrätin Jacqueline Fehr (60) leitet die Direktion der Justiz und des Innern im Kanton Zürich. Sie ist Kopräsidentin der «Plattform.EU» der SP.