Auf allen Kanälen: Das Lachen vergangen
Noch nie war der Druck auf Satiriker:innen in der Türkei so gross wie jetzt – trotz der langen Tradition, die dieses Genre dort hat.

Vor fünfzig Jahren war das in der Türkei noch möglich: Das Satiremagazin «Gırgır» (Spass) publizierte 1976 auf dem Titelblatt eine Karikatur, die den damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel nackt kopfüber zeigt. In der Zeichnung gleicht er einer Propangasflasche. Auf seinem Hintern ist ein Kochtopf zu sehen, vor ihm eine blonde Frau mit einem tiefen Ausschnitt und in kurzem Kleid. Sie schaut in den Topf und sagt: «Wenn die erhöhten Steuern auf Erdgas Ihr Budget schädigen, verwenden Sie das Erdgas von Sülügaz. Die Steuern auf dieses werden niemals steigen.»
Das Satiremagazin machte sich über ein gebrochenes Versprechen Demirels lustig. Dieser reagierte damals entspannt. Würde dagegen dieser Tage ein ähnliches Cover erscheinen, würden der Karikaturist und die Chefredaktion wegen «Beleidigung des Präsidenten» angeklagt und verurteilt sowie die Redaktion geschlossen werden.
Ein Mob fordert die Scharia
Solche Repression erfahren derzeit die Macher:innen von «LeMan». In der Ende Juni veröffentlichten Ausgabe des Magazins werden zwei Männer mit langem Bart gezeigt, die mit Engelsflügeln einem Bombenhagel entfliehen. Sie reichen sich die Hand. «Selamun aleyküm, ich bin Mohammed», sagt der eine. Der andere begrüsst ihn mit einem «Aleichem shalom, ich bin Musa» – das ist die arabische Schreibweise für Moses. Vier Mitarbeiter des Magazins, darunter der Karikaturist, wurden nun wegen «Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit» verhaftet. Die Polizei schloss die Redaktionsräume. Ein Mob schrie vor dem «LeMan»-Gebäude: «Nieder mit dem Säkularismus, es lebe die Scharia!» Die Staatsanwaltschaft ordnete zudem die Beschlagnahmung der Hefte an, die noch in den Kiosken auslagen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte an, die Verantwortlichen zur «Rechenschaft» zu ziehen.
«LeMan»-Chefredaktor Tuncay Akgün bestritt gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, dass es sich um eine Karikatur des islamischen Propheten handle. «In diesem Werk wird der Name eines Muslims, der bei den Bombardierungen Israels getötet wurde, als Mohammed fiktionalisiert», erklärte er. Die Karikatur habe nichts mit dem Propheten zu tun. «Wir würden niemals ein solches Risiko eingehen.»
Satire hat in der Türkei eine lange Tradition, die bis ins Osmanische Reich zurückreicht. Während der vergangenen Jahrhunderte kam es zwar immer wieder zu Repressalien. Doch der Druck auf die Humorist:innen dürfte noch nie so hoch gewesen sein wie seit der Herrschaftsübernahme der AKP im Jahr 2002.
Humorloser Sultan
Ein Vorbild für Erdoğan soll Sultan Abdülhamid II. sein. Dieser hatte während seiner Herrschaft von 1876 bis 1909 ein Satireverbot erlassen. Ihm missfiel die Darstellung seiner grossen Nase in Cartoons. Doch trotz der Verbote fand der gedruckte Humor immer wieder seinen Weg in die Gesellschaft. Die erste osmanische Satirezeitschrift, «Diyojen» (Diogenes), wurde 1870 heimlich gedruckt und dann nach drei Jahren verboten. Es folgten weitere Publikationen wie «Tokmak» (Knopf) oder «Cem».
So ging es dann auch nach der Gründung der Republik 1923 weiter. Magazine wurden gegründet, verboten, es folgten Neugründungen. Kein Thema, das die Satiriker:innen scheuten: Gleich ob das Militär, Linke, Rechte, Kurd:innen oder Feministinnen, jeder musste mit einer schonungslosen Darstellung rechnen – und die Magazine erfreuten sich grosser Beliebtheit.
Der Druck variierte von Machthaber zu Machthaber. Eine Liberalisierung erfolgte unter Staats- und Ministerpräsident Turgut Özal (1983–1993). Dieser soll gar Karikaturen von sich gesammelt haben. Während seiner Amtszeit erreichte «Gırgır» eine Auflage von bis zu 500 000 Exemplaren. Ehemalige «Gırgır»-Mitarbeiter:innen gründeten 1991 «LeMan» sowie die Blätter «Penguen» (Pinguin) und «Uykusuz» (Schlaflos). Während «Penguen» auch wegen des anhaltenden politischen Drucks 2017 den Betrieb einstellte, konnten sich die anderen beiden halten.
Vor allem die Redaktion von «LeMan» hat sich von Erdoğans Klagewut immer wieder anspornen lassen. Nachdem dieser «LeMan» verklagt hatte, weil die Zeitschrift ihn als Insekt karikiert hatte, stellten die Zeichner:innen ihn fortan eben als Gemüse dar. Doch diesmal ist die Website von «LeMan» gesperrt – wie und ob es überhaupt weitergeht, das ist nicht klar.