Die Katastrophe von Mattmark: Die offizielle Schweiz bleibt fern

Nr. 35 –

Vor sechzig Jahren kamen bei einer Eislawine im Wallis Dutzende Arbeiter:innen ums Leben. Die Katastrophe hätte wohl verhindert werden können. Der Opfer gedenken bis heute vor allem Italiener:innen.

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Im September 1965 versuchte die Krankenpflegerin Maria Testa, mithilfe eines mobilen Röntgenapparats so viele Leichen wie möglich zu identifizieren. Sie machte Aufnahmen der Brustkörbe und verglich sie mit jenen, die die Saisonniers jeweils als Teil der sanitarischen Grenzkontrollen im Bahnhof Brig von sich hatten machen lassen. Es gelang ihr so, die Namen etlicher Opfer zu ermitteln. Bei vielen Leichen war ein Röntgenbild allerdings nicht möglich; die Körper waren zertrümmert worden – von der Eislawine, die am späteren Nachmittag des 30. August nach einem Abbruch der Zunge des Allalingletschers heruntergedonnert war und 88 Menschen, die meisten von ihnen Saisonniers, unter sich begraben hatte.

Das Barackendorf, in dem die rund 1400 Arbeiter des Staudamms schliefen, befand sich zuhinterst im Saastal beim Weiler Zermeiggern. Von hier aus fuhren sie jeweils mit dem Bus zur rund 450 Meter höher gelegenen Baustelle. In der zugehörigen Kantine verköstigten mehrheitlich Frauen mittags und um Mitternacht die Arbeiter. Dieses zweite Barackendorf war direkt unter dem Allalingletscher errichtet worden. Wissenschaftliche Berater und ein beteiligter Ingenieur forderten deshalb schon früh, dass die Gletscherbewegungen regelmässig kontrolliert werden sollen. Wohl aus Kostengründen wurden diese Kontrollen unterlassen – trotz warnender Vorzeichen. Bereits 1949 waren Eismassen in die Nähe der Stelle vorgedrungen, an der später die Baracken errichtet wurden.

Das Prestigeprojekt verspricht Arbeit

Am 30. August 1965 schliesslich liess die Lawine den Menschen keine Chancen. Die meisten der Opfer waren Arbeiter, einige wenige von ihnen Techniker. Die zwei getöteten Frauen waren Kantinenangestellte. 56 der Opfer waren italienischer Herkunft, von ihnen waren 17 aus der Provinz Belluno eingereist. Die Schweizer Arbeiter stammten überwiegend aus dem Saastal. Maria Testa und ihre Kollegin in der Sanitätsbaracke haben alle Opfer gekannt.

In Mattmark wurde damals mit 120 Metern Höhe der grösste sogenannte Erddamm Europas erbaut. Für die Umsetzung schlossen sich die beteiligten Firmen zur Arbeitsgemeinschaft Staudamm Mattmark (ASM) zusammen. Tonangebend war die auf Planung von Kraftwerken spezialisierte Firma Elektrowatt in Zürich. Entscheidenden Einfluss in den Verhandlungen mit den Gemeinden übte der damals noch bei der Elektrowatt beschäftigte Bauingenieur und bekannte Politiker Roger Bonvin aus. Es gelang ihm, die lokalen Behörden für den geplanten Staudamm zu gewinnen. Bald darauf wählte ihn das Parlament als Vertreter der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei (heute: Die Mitte) in den Bundesrat.

Nebst finanziellen Mitteln für die zumeist armen Dorfgemeinden sollte das Projekt Arbeit für die lokale Bevölkerung schaffen. Ausser im Tourist:innenmagnet Saas-Fee hatte im Saastal bis anhin die Alpwirtschaft dominiert, die vor allem von Frauen erledigt wurde. Viele der Männer arbeiteten als Maurer und fanden auf Grossbaustellen in der ganzen Schweiz Beschäftigung. Sie verliessen das Tal im Frühling und kehrten erst im Spätherbst zurück, ähnlich den italienischen Saisonniers. Eine Anstellung beim «Werk», so die Bezeichnung der Einheimischen, sollte ihnen eine Lohnarbeit in der Nähe ihrer Familie ermöglichen. Zudem boten sich den einheimischen Frauen im Bereich Kost, Logis und Wäsche neue Erwerbsmöglichkeiten.

Beim Grossprojekt Mattmark wurden schliesslich jedoch vor allem italienische Saisonniers beschäftigt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung prägte deren Alltag. Die Männer arbeiteten auf dem Damm, die Frauen in den Kantinen und Baracken.

Viele der Beschäftigten waren zwar verheiratet, wohnten aber getrennt: der Mann in der Schweiz, die Frau zu Hause in Italien. Dort war sie verantwortlich für die Betreuung der Kinder und in der herkömmlichen Familienwirtschaft engagiert. Indirekt war die erzwungene Familientrennung ein grundlegendes, wenn auch menschenrechtswidriges Element der Grossbaustellenstruktur mit ihren Arbeiter:innenbaracken. Frauen garantierten die Kontinuität im Haushalt in der Heimat, ohne die das Saisonnierstatut nicht denkbar gewesen wäre: Ein Wohnort, an den man die Arbeiter jedes Jahr zurückschicken konnte, war dessen Voraussetzung.

Freispruch und Erinnerungskulturen

Der 30. August änderte alles. Die Suche nach den Toten sollte Monate dauern. Wie der Gletscherabbruch gedeutet werden sollte, war dagegen rasch etabliert. Nur wenige Tage nach der Katastrophe war Roger Bonvin, mittlerweile schon Bundesrat, in Mattmark. Mit dem Argument der «Unvorhersehbarkeit» der Katastrophe stritt er jegliche Schuld der Bauleitung ab. Gerold Schnitter von der ETH Zürich, der vor Baubeginn noch wegen der möglichen Gefahren eines Gletscherabbruchs regelmässige Kontrollmessungen verlangt hatte, unterstützte nun diese Argumentation gegenüber den aus Europa angereisten Medien und in der Regionalsendung «Antenne» des Schweizer Fernsehens.

Die Staatsanwaltschaft des Kantons erhob trotzdem gegen siebzehn Personen Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Sie richtete sich etwa gegen Elektrowatt-Direktor Olivier Rambert, Oberingenieur Alexandre Verray, aber auch gegen Vertreter der Suva und der kantonalen Behörden. Die vom Bezirksgericht Visp geleitete Untersuchung zog sich über Jahre hin. Das Gericht beauftragte internationale Experten damit, die Frage nach der Verantwortung zu untersuchen. Sie kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Zum Teil stützten sie die These, wonach der Abbruch unvorhersehbar gewesen sei, zum Teil aber eben auch nicht.

Die offizielle Eröffnungszeremonie des Kraftwerks lag bereits bald drei Jahre zurück, als im Februar 1972 im Theatersaal «Zur alten Post» in Visp der Prozess endlich über die Bühne ging. Die Angeklagten wurden von den bekanntesten Anwälten aus dem Oberwallis vertreten. Sie waren fast ausnahmslos eng mit der CVP verbunden, ebenso wie auch die drei Richter. Recherchen, die der Journalist Kurt Marti von 2005 bis 2023 publizierte, offenbarten gravierende Mängel in der Urteilsfindung. Demnach berücksichtigten die Richter nur die Argumente eines Expertenberichts, der die These der Unvorhersehbarkeit vertrat und damit die Angeklagten entlastete. Nach einer Woche stand das Urteil fest: Freispruch für alle Angeklagten. In Genf kam es darauf zu Protestaktionen. Angehörige der italienischen Opfer sowie die Staatsanwaltschaft legten beim Walliser Kantonsgericht Berufung gegen das Urteil ein.

Über den Sommer vertiefte sich der im Fall federführende Kantonsrichter Paul-Eugen Burgener in die Akten und bezog weitere Materialien mit ein. In einem achtzigseitigen Bericht kam er zum Schluss, dass vier der siebzehn Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen seien, darunter die Ingenieure Rambert und Verray. Doch seine Kollegen im fünfköpfigen Gericht überstimmten ihn und bestätigten im Spätherbst 1972 das erstinstanzliche Urteil. In den archivierten Justizakten zum Fall Mattmark fand sich von Burgeners Bericht keine Spur. Der Journalist Marti erhielt nur dank einer Kopie im persönlichen Nachlass des Kantonsrichters Einsicht.

Die Hälfte der Kosten des kantonsgerichtlichen Verfahrens hatten die Rekurrierenden zu tragen. Für Italien – Medien, Regierung und Bevölkerung – ein Skandal: nicht nur wegen der Kosten für die Hinterbliebenen, sondern wegen des Urteils überhaupt. In Italien wurde es als Ausdruck schweizerischer Fremdenfeindlichkeit verstanden. Diese erreichte zu dieser Zeit mit den Auseinandersetzungen um die Schwarzenbach-Initiative ihren Höhepunkt. In der Folge ist im von Arbeitsmigration stark betroffenen Italien die Katastrophe und das als empörend empfundene Urteil bis heute in schmerzlicher Erinnerung geblieben. Sie zeigt sich insbesondere in der Provinz Belluno mit Erinnerungstafeln im öffentlichen Raum.

In der Schweiz dagegen versinnbildlicht der Erddamm Mattmark die ausserordentlichen technischen Leistungen im Bereich Wasserkraft. Der Stausee ist berühmt für seinen attraktiven Wanderweg vom Saastal über den Monte-Moro-Pass ins benachbarte Macugnaga. Kaum jemand nimmt die am Wegrand platzierten kleinen persönlichen Erinnerungsmedaillen italienischer Opfer wahr. Dennoch hat die Katastrophe auch in der Schweiz Spuren hinterlassen, allerdings auf einer anderen Ebene.

Verbesserte Gesetzgebung

Zu den kritischen Stimmen gegenüber dem Freispruch gehörten die Gewerkschaften und insbesondere Ezio Canonica, Zentralpräsident des Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverbands (später GBH, heute Teil der Unia). Als Nationalrat setzte er sich erfolgreich für verbesserte Sicherheitsmassnahmen bei Grossprojekten ein. Er legte die Grundlage für die Gleichbehandlung der Migrant:innen in den Gewerkschaften, plädierte für die Abschaffung des Saisonnierstatuts, ganz im Gegensatz zur Meinung anderer führender Gewerkschafter und etlicher Sektionen, die im Kontext der Schwarzenbach-Initiative selbst gegen die vermeintliche «Überfremdung» polemisierten.

Die eigentliche Wende in der Beurteilung des Freispruchs im Fall Mattmark trat erst 2015 ein, fünfzig Jahre nach der Katastrophe. Kurt Martis Recherchen trugen entscheidend zum Umdenken bei, ebenso die Untersuchungen des Historikers Toni Ricciardi von der Universität Genf. Das von Roger Bonvin in die Welt gesetzte Argument, wonach die Katastrophe unvorhersehbar gewesen sei, wurde zunehmend hinterfragt. In den Fokus geriet die Tatsache, dass Massnahmen zur Risikoprävention vermutlich aufgrund von Zeitdruck und Profitstreben unterlassen worden waren. Die Aufarbeitung dauert bis heute an. Dieses Jahr erschien etwa der Roman «Ein unvorhersehbares Ereignis», in dem Urs Hardegger teils fiktiv, teils historisch belegt die Geschichte nacherzählt.

Am 30. August steht nun wieder eine Gedenkveranstaltung an. Und der neuen schweizerischen Perspektive zum Trotz bezeugt die Veranstaltung doch auch, wie unterschiedlich die Erinnerungskultur hier im Vergleich zu Italien immer noch ist. Während Italien mit einer Präsenz bedeutender Persönlichkeiten – vom Minister bis zur Oppositionsführerin Elly Schlein vom Partito Democratico – vertreten ist, repräsentiert einzig der Walliser Staatsrat Mathias Reynard die hiesigen Behörden. Die offizielle Schweiz stellt niemanden.

Den grössten Teil der Besucher:innen werden auch dieses Jahr wieder die per Bus anreisenden Angehörigen der italienischen Opfer aus der Provinz Belluno ausmachen. Und wie in fast allen Jahren zuvor wird auch Maria Testa wieder teilnehmen; inzwischen ist sie 95.

Elisabeth Joris (Hg.): «Mattmark 1965. Erinnerungen, Gerichtsurteile, italienisch-schweizerische Verflechtungen». Rotpunktverlag. Zürich 2025.

Urs Hardegger: «Ein unvorhersehbares Ereignis». Roman. Verlag Nagel und Kimche. Zürich 2025.