Vor fünfzig Jahren: Die 88 Toten vom Mattmark
Beim Bau eines Staudamms im Walliser Saastal kamen 1965 nach einem Gletscherabbruch 88 Arbeiter ums Leben. Schuld soll niemand gewesen sein.
Sie waren dabei, einen Staudamm im Mattmarkgebiet der Walliser Alpen zu bauen. Nach fünf Jahren Bauzeit stand das Projekt kurz vor der Vollendung. Doch dann stürzten am 30. August 1965 zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll vom Allalingletscher auf einen Teil der rund tausend Arbeiter und ihre Barackenbehausungen nieder. 88 Menschen verloren dabei ihr Leben, darunter 56 italienische Migranten.
Die Tragödie erregte weltweit Aufsehen. Es war eine der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der modernen Schweiz. JournalistInnen aus aller Welt reisten an. Ein Bulldozerführer schilderte dem Korrespondenten der NZZ, wie er die Katastrophe habe kommen sehen und hinter der Ladeschaufel seines Gefährts Schutz gesucht habe. Dennoch geriet er bis zur Brust in den Eisstrom, konnte sich aber unverletzt befreien. Viele der Opfer wurden erst mehrere Wochen nach dem Gletscherabsturz geborgen. Ihre überlebenden Kollegen und die Angehörigen standen lange unter Schock.
Schon kurz nach dem Unglück versuchten die Bauherren ebenso wie Politiker, die Katastrophe als unvorhersehbare Naturtragödie hinzustellen. Der Walliser Bundesrat Roger Bonvin (CVP) behauptete, dass sich im Gletscherkörper wohl irgendwann Flüssigkeit gebildet haben könnte, die im Laufe der Jahre zur Gletscherzunge gelangt sei und schliesslich zum Bruch geführt habe. Von Glaziologen sei so etwas nicht vorauszusehen. Arbeiter auf der Baustelle sagten dagegen, dass sich viele der Gefahr durch einen Gletscherabbruch bewusst gewesen seien.
Bonvin hatte schon aus persönlichen Gründen kein Interesse, die Verantwortungsfrage zu stellen. Schliesslich arbeitete er vor seiner Wahl zum Bundesrat als Ingenieur für die Mattmark-Bauherrin Elektrowatt. Er soll auch von einem früheren Abbruch des Gletschers im Jahr 1949 gewusst haben. Damals stoppten die Eismassen nur hundert Meter vor der Stelle, an der die Bauherrschaft einen Teil der Baracken erstellen liess, die dann verschüttet wurden.
Die Anteilnahme der Öffentlichkeit war riesig. Für die Verletzten und Hinterbliebenen wurde Geld gesammelt. Die Kathedrale von Sitten war für die Trauerfeier zu klein, Hunderte bekamen keinen Einlass. Die Bauherrschaft dachte da bereits wieder an den Auftrag. Sie erliess einen Aufruf: «Liebe Mitarbeiter, eine schreckliche Katastrophe hat uns heimgesucht. Treue Arbeitskameraden wurden dahingerafft. Wir verneigen uns vor den Opfern. Unser Damm ist noch nicht fertig. Zuerst gilt es zu bergen, aufzuräumen und dann unser Werk zu vollenden. Wir zählen auf eure Mitarbeit.»
Es dauerte mehrere Jahre, bis die verantwortlichen Firmenvertreter und Ingenieure, aber auch zwei Beamte der Suva sich vor Gericht zu verantworten hatten. Die Staatsanwaltschaft forderte von den Angeklagten lediglich Bussen von 1000 bis 2000 Franken. Doch das Bezirksgericht Visp, wie später auch das Kantonsgericht Sitten, sprach alle frei, das Unglück sei nicht voraussehbar gewesen.
Die Urteile lösten in der Schweiz wie in Italien Proteste aus. In Genf demonstrierten im März 1972 tausend MigrantInnen. Italienische Gewerkschaften machten darauf aufmerksam, dass in nur zehn Jahren 1154 italienische Arbeiter in der Schweiz bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen waren, und forderten bessere Schutzmassnahmen.
Die Mattmark-Katastrophe ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als die Nationale Aktion unter James Schwarzenbach Unterschriften für eine erste «Überfremdungsinitiative» sammelte. Das Unglück hatte laut einer neuen Studie der Uni Genf, die dieser Tage veröffentlicht wird, zwar das Mitgefühl von Einheimischen mit den MigrantInnen erhöht, aber zugleich auch, aufgrund der Forderungen der Hinterbliebenen und italienischer Autoritäten, die fremdenfeindliche Bewegung gestärkt.
SRF 1 zeigt am Erscheinungstag dieser WOZ (27. August 2015) um 20.05 Uhr den neuen Dokumentarfilm «Das Unglück von Mattmark». Im Seismo-Verlag erscheint am 28. August 2015 das Buch «Mattmark, 30. August 1965» von Toni Ricciardi, Sandro Cattacin und Rémi Baudouï (180 Seiten, 34 Franken).