Linke in Brasilien: Lula im Labyrinth
Die alten Rezepte lassen sich nicht einfach wiederholen: In seiner dritten Amtszeit scheint Lula da Silvas Regierung gefangen in ihren eigenen Widersprüchen. Währenddessen stellt sich die extreme Rechte neu auf.

Lula da Silva liebt den grossen Auftritt auf internationaler Bühne. In solchen Momenten glänzt Brasiliens 79-jähriger Präsident mit Charisma, Jovialität und Herzlichkeit. So auch am Wochenende in Rio de Janeiro: Überschwänglich begrüsste Lula beim Gipfel der Brics-Staaten Regierungschefs aus aller Welt. Indiens Premierminister Narendra Modi und Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa schien Lula gar nicht mehr aus seiner innigen Umarmung lassen zu wollen.
Doch die freundschaftliche Atmosphäre kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass so einiges nicht zusammenpasst beim Brics-Staatenblock (benannt nach Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Am Schluss konnte man sich in Rio in vielen Punkten bloss auf einen Minimalkonsens einigen. Während Russland und China auf stärkere Konfrontation gegenüber den mächtigen Industrienationen drängen, wollen es sich Brasilien und Indien nicht mit ihren grossen Handelspartnern verscherzen. Die Erweiterung im vorletzten Jahr (hinzu kamen der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Indonesien) hat zudem nicht dazu beigetragen, das Profil der Brics zu schärfen – zumal nun fünf der zehn Mitgliedstaaten autokratisch bis diktatorisch regiert werden. Niemand kann heute sagen, welche oder wessen Interessen das Bündnis genau vertritt.
Und trotzdem genoss Lula sichtlich seine Gastgeberrolle vor der Postkartenkulisse Rios. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass sie ihm von den Querelen im eigenen Land Ablenkung verschaffte.
Eine veritable Zwickmühle
Denn es läuft für Lulas Regierung nicht rund. Fast sechzig Prozent der Brasilianer:innen lehnen sie gemäss Umfragen ab. Besonders schmerzhaft: Eine Mehrheit findet, dass Lulas Vorgänger Jair Bolsonaro besser regiert habe. Das sind niederschmetternde Werte für einen, der sich bis zum Ende seiner ersten zwei Amtszeiten (2003 bis 2010) einer riesigen Beliebtheit erfreute.
Tatsächlich ist es Lula bisher nicht gelungen, die von vielen Linken erhoffte Aufbruchstimmung zu entfachen, seit er Anfang 2023 das Präsidentenamt vom extrem rechten Jair Bolsonaro übernahm. Dieser hatte Brasilien schwer geschadet: durch seine verantwortungslose Pandemiepolitik, die schätzungsweise 700 000 Menschen das Leben kostete. Durch die Aushöhlung staatlicher Institutionen, Angriffe auf Bildung und Kultur, durch seine Wirtschaftspolitik, die steigende Arbeitslosigkeit und Inflation mit sich brachte. Umso erstaunlicher war es, dass Lula die Stichwahl am Ende mit nur 1,8 Prozentpunkten Vorsprung gewann.
Der knappe Ausgang machte deutlich, wie tief verwurzelt der Rechtskonservatismus in Brasilien in Wahrheit ist und wie stark polarisiert die Gesellschaft ist. Lulas Vorhaben, sie wieder zusammenzuführen – verkörpert im Regierungsslogan «Einheit und Rekonstruktion» –, wirkte daher von Anfang an illusorisch, zumal er selbst die grösste Reizfigur für die Rechten ist.
Aber auch aus linker Perspektive bietet eine Zwischenbilanz von Lulas dritter Amtszeit viel Anlass für Kritik – von der Wirtschaft über den Umweltschutz bis hin zur Aussenpolitik.
Vorauszuschicken ist, dass Lula in einer veritablen Zwickmühle steckt. Im Parlament sind zwanzig Parteien vertreten; um daraus eine regierungsfähige Mehrheit zu schaffen, hat Lula eine Koalition aus zehn Parteien von ganz links bis rechtskonservativ gezimmert. Das bietet der oppositionellen Rechten ständiges Erpressungspotenzial und zwingt Lula permanent zu Verhandlungen und verwässernden Kompromissen. Je näher die Wahlen rücken, desto stärker nutzt die Rechte zudem ihre Macht aus, um sich zu profilieren und die Regierung zu blockieren.
Unumstritten ist, dass Brasilien unter Lula ökonomisch wieder wächst. Die Wirtschaft verzeichnete 2024 ein unerwartet hohes Wachstum von 3,4 Prozent, insbesondere der Dienstleistungssektor sowie die Baubranche expandierten. Auch der private Konsum stieg an.
Lula kann auch für sich beanspruchen, dass die Arbeitslosigkeit weiter zurückgegangen ist. Mitte 2025 lag sie bei 6,2 Prozent – so niedrig wie seit 2012 nicht mehr. Ein Dämpfer liegt hingegen in der hohen Inflation von 5,5 Prozent: Um sie zu bekämpfen, hat die Zentralbank den Leitzins auf mittlerweile 15 Prozent angehoben, einen der höchsten Werte der Welt. Das bedeutet: Wer Geld hat und es anlegt, wird noch reicher. Wer aber einen Kredit bräuchte, etwa ein einfacher Handwerker, lässt es derzeit eher bleiben. Lula mag die hohen Zinsen daher nicht, doch seine Appelle an die Zentralbank, sie zu senken, verhallen ungehört.
Der Regierungspolitiker
Wie so oft verdecken aber auch in Brasilien die nackten Wirtschaftsdaten tiefer liegende Probleme. Fast vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind im informellen Sektor tätig, haben also weder Arbeitsverträge noch eine soziale Absicherung. Sie kommen mit ihren Einnahmen gerade so über die Runden. Das betrifft etwa das riesige Heer aus Uber-Fahrern, Essenszustellerinnen, Haushaltshilfen und Strassenverkäufern.
Gemessen am riesigen Potenzial mangelt es Brasilien enorm an besser bezahlten Arbeitsplätzen in der Industrie und im Dienstleistungssektor. Zudem konzentriert sich ein Grossteil der Unternehmen im Südosten und Süden des Landes, während andere Regionen abgehängt sind, etwa der Nordosten. Und mit siebzig Prozent finden sich die allermeisten Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, zu dem auch der öffentliche Dienst zählt. Damit ist der Staat vielerorts der grösste Arbeitgeber – was auch Vetternwirtschaft und Korruption begünstigt: Laut Schätzungen der Fundação Getulio Vargas, der ältesten Wirtschaftshochschule Brasiliens, verschwinden bis zu vier Prozent des öffentlichen Haushalts in privaten Taschen.
Doch die Korruptionsbekämpfung gehörte nie zu Lulas Prioritäten. Zu seinen schlechten Umfragewerten hat zuletzt auch ein riesiger Betrugsskandal im Rentensystem beigetragen: Jahrelang wurden Gewerkschaftsbeiträge illegalerweise von der Altersversorgung abgezogen. Der Schaden beträgt umgerechnet rund eine Milliarde Franken. Für die Rechte ist der Skandal ein gefundenes Fressen.
Zu Beginn seiner aktuellen Amtszeit setzte Lula auf umfassende Sozialprogramme – und damit auf ein politisches Instrument, das er schon in seinen ersten Präsidialjahren erfolgreich eingesetzt hatte. Nach der Covid-Pandemie war das essenziell, denn unter Bolsonaro war der Hunger nach Brasilien zurückgekehrt. Unter Lula konnte er erneut besiegt werden. Über das bewährte «Bolsa Família»-Programm beziehen mittlerweile mehr als zwanzig Millionen Haushalte Sozialhilfe, das sind rund 55 Millionen Brasilianer:innen, fast ein Viertel der Bevölkerung. Das deutet darauf hin, dass es der Regierung zwar gelingt, die Armut abzufedern – aber dass sie nicht effizient darin ist, deren Ursachen zu beseitigen. In 12 der 27 Bundesstaaten gibt es heute mehr Sozialhilfeempfänger:innen als Beschäftigte.
Wie wenig sich tatsächlich bewegt, zeigt auch eine aktuelle Studie des in Rio ansässigen Instituts für Mobilität und soziale Entwicklung: Demnach gelingt nur 2,5 Prozent der Menschen aus den ärmsten 25 Prozent der Bevölkerung der Aufstieg aus dieser Gruppe in die oberen Schichten. Damit liegt Brasilien weltweit auf einem der hintersten Plätze. Für Frauen und Schwarze stehen die Chancen noch schlechter.
Das ist zu wenig für Lula, der sich gerne als Präsident der Armen präsentiert. Und für seine Arbeiterpartei, die während 16 der vergangenen 22 Jahre an der Macht war. Anstelle langfristiger Strategien zum Abbau der strukturellen Ungleichheit, etwa durch eine dringend notwendige Bildungsreform, setzt Lula weiterhin auf Sozialtransfers. Ein Vorwurf lautet daher, dass er Regierungspolitik statt Staatspolitik betreibe: Während Erstere vor allem auf Stabilisierung und Machterhalt ausgerichtet ist, zielt Letztere auf die Schaffung tragfähiger staatlicher Strukturen. Der linke Soziologe Ricardo Antunes von der Campinas-Universität in São Paulo umschreibt Lulas Regierungspraxis daher als pragmatische Verwaltung eines komplizierten politischen Systems, die zwar soziale Verbesserungen bringe, aber die strukturellen Probleme des brasilianischen Kapitalismus nicht anpacke.
Extreme Rechte in Lauerposition
Auch Lulas Umweltpolitik ist von Widersprüchen geprägt. Unter Jair Bolsonaro war die Abholzung stark angestiegen, besonders im Amazonas. Lula versprach, sie zu senken. Teilweise ist das auch gelungen, weil er die Umweltbehörden wieder gestärkt hat; laut Daten des Forschungsinstituts Imazon sank die Abholzung im Amazonas zwischen 2021 und 2025 um 60 Prozent. Allerdings ist das Bild uneinheitlich: In den Jahren 2024 bis 2025 stieg die Entwaldung wieder um 20 Prozent an.
Lula war nie ein Umweltschützer. Er ist ein linker Entwicklungspolitiker, der Wachstum über Naturschutz stellt. 2023 sagte er: «Wir wollen unsere Fauna, unsere Bäume, unsere Flüsse schützen, aber noch wichtiger ist, dass wir uns um die Menschen kümmern.» Offenbar hat er nie begriffen, dass Umweltschutz und soziale Entwicklung sich bedingen. Aber er hat erkannt, welchen Stellenwert das Thema im Ausland hat. Er hat die Weltklimakonferenz COP30 in die Amazonasstadt Belém geholt, sie findet im November statt. Dort möchte Lula Brasiliens Regenwald als Schlüssel zur Eindämmung des Klimawandels präsentieren – und für dessen Schutz erneut Millionen US-Dollar von den Industrieländern fordern. Gleichzeitig hat er kein Problem damit, die Ölförderung im Amazonasmündungsgebiet gegen den Widerstand von Umweltministerin Marina Silva durchzusetzen.
Ebenso durchwachsen präsentiert sich Lulas aussenpolitische Bilanz. Zu Beginn seiner Präsidentschaft hatte er die Illusion, in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine als Vermittler auftreten und Frieden bringen zu können. Putin und Selenski sollten sich endlich zusammensetzen, sagte er, und gab Selenski eine Mitschuld am Krieg. Dann nahm er im vergangenen Mai an Putins Militärparade in Moskau teil. Die liberal-konservative Tageszeitung «Estadão» bezeichnete Lula daraufhin als dessen «nützlichen Idioten».
Zudem strebt Lula weiterhin ein Freihandelsabkommen der südamerikanischen Mercosur-Staatengruppe mit der EU an. Während letzte Woche mit den Efta-Staaten – und damit auch mit der Schweiz – ein Ergebnis erzielt werden konnte, stockt der Prozess mit den EU-Staaten; vor allem Frankreich fürchtet, von brasilianischen Agrarprodukten überschwemmt zu werden, für deren Produktion andere Umweltstandards gelten als in der EU. Lula wiederum lehnt deren Forderung ab, künftig Nachweise für eine «abholzungsfreie» Produktion zu erbringen.
Brasiliens extreme Rechte versucht nun, aus Lulas Schwäche Kapital zu schlagen. Expräsident Bolsonaro selbst darf bei den Wahlen im nächsten Jahr nicht wieder antreten: Er muss sich derzeit vor dem Obersten Gerichtshof gegen den Vorwurf verteidigen, nach seiner Wahlniederlage Ende 2022 einen Putsch geplant zu haben. Offenbar fand damals nur deshalb kein Staatsstreich statt, weil die Führungen von Heer und Luftwaffe nicht mitmachen wollten. Sollte Bolsonaro schuldig gesprochen werden, droht ihm eine lange Haftstrafe. Nun streitet die bolsonaristische Bewegung darüber, wer an seiner Stelle antreten soll. Bolsonaros Ehefrau Michelle ist ebenso im Gespräch wie zwei seiner Söhne sowie der Gouverneur des Bundesstaats São Paulo.
Demgegenüber lässt sich Brasiliens Linke weiterhin von Lula dirigieren: Obwohl er im Oktober achtzig Jahre alt wird, hat er bereits klargemacht, erneut zur Wahl antreten zu wollen. Bislang hat sich noch niemand getraut, aus Lulas Schatten herauszutreten – und Brasiliens Linke mit frischen Ideen zu beleben. Dabei wären solche dringend nötig.