Stichwahl in Brasilien: Noch ist der Albtraum nicht vorbei
Lula da Silva setzt sich knapp gegen Jair Bolsonaro durch. Die Wiederaufnahme seiner sozialdemokratischen Agenda wird auf heftigen Widerstand stossen, wie die Ereignisse der letzten Tage zeigen.
Die gute Nachricht zuerst: Brasiliens junge Demokratie zeigt sich stabil. Es rollten keine Panzer durch die Städte, nachdem bekannt geworden war, dass mit Jair Bolsonaro erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 ein Präsident nach nur einer Amtszeit wieder werde abtreten müssen. Stattdessen feierten Zehntausende Anhänger:innen von Luiz Inácio Lula da Silva den knappen Wahlsieg ihres Hoffnungsträgers ausgelassen und frenetisch auf den Strassen des Landes.
Der linke Kandidat und Expräsident hat am Sonntag die Stichwahl gegen Bolsonaro mit etwas mehr als zwei Millionen Stimmen Vorsprung gewonnen. Für brasilianische Verhältnisse ist das knapp. Lula erhielt mehr als 60 Millionen Stimmen, Bolsonaro 58 Millionen. Trotz der in Brasilien geltenden Wahlpflicht erschienen über 32 Millionen Brasilianer:innen nicht zur Wahl.
Der Vorsprung Lulas war damit geringer, als von den Umfrageinstituten vorhergesagt und von progressiven Kräften erhofft. Letztere hatten sich einen klareren Sieg gewünscht, um jeglichen Behauptungen von Wahlbetrug aus dem bolsonaristischen Lager die Grundlage zu nehmen. Anlass zu dieser Befürchtung hatte der Präsident bereits während des Wahlkampfs immer wieder gegeben. Bolsonaro bezweifelte die Sicherheit der elektronischen Wahlurnen und behauptete, dass er die Wahlen nur verlieren könnte, wenn sie manipuliert würden.
Langes Schweigen
Tatsächlich bewies das Wahlsystem, wie robust, demokratisch, schnell und genau es ist. Trotz der Grösse des Landes dauerte es keine drei Stunden zwischen der Schliessung der Wahllokale um 17 Uhr und der Verkündung der Ergebnisse. Allerdings gab es auch beunruhigende Berichte von Kontrollen und Einschüchterungsversuchen durch die Polizei im Nordosten, wo Lula besonders stark ist. Brasiliens oberstes Wahlgericht ordnete das sofortige Ende der Aktionen unter Androhung von Strafen an.
Ebenfalls positiv fiel auf, wie schnell Lulas Wahlsieg von einflussreichen Politiker:innen anerkannt wurde. Zu ihnen zählten die Bolsonaro nahestehenden Präsidenten von Parlament und Senat, einige seiner Exminister sowie der neue Gouverneur des reichsten und bevölkerungsreichsten Bundesstaats São Paulo. Er war zuvor Bolsonaros Infrastrukturminister gewesen.
Die grosse Ausnahme war Jair Bolsonaro selbst. Nach Verkündung des Ergebnisses tauchte er zunächst ab; erst am Dienstagnachmittag meldete sich der Präsident zu Wort, nachdem Gruppen seiner Anhänger:innen schon Hunderte von Strassenblockaden im ganzen Land errichtet hatten. Sie legten wichtige Verkehrsverbindungen lahm, etwa die Autobahn zwischen São Paulo und Rio, und behaupteten, dass sie im Namen «des Volks» handelten. Ihre Blockaden bezeichneten sie als «zivilen Widerstand». Es müsse Neuwahlen geben, forderten sie. Der Oberste Gerichtshof sah sich gezwungen, einzugreifen. Er forderte die Verkehrspolizei auf, die Sperren sofort aufzulösen. Der Chef der Behörde ist ein Anhänger Bolsonaros, ihm wurden persönliche Strafen angedroht, sollten seine Beamt:innen weiterhin untätig bleiben.
Bolsonaro ermutigte die Demonstrant:innen in seiner Rede dagegen zum Weitermachen, solange sie sich an Recht und Gesetz hielten. Die Wahl bezeichnete er als «ungerecht». Er bestärkte damit indirekt die bereits zirkulierende Verschwörungserzählung, wonach es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Nur indirekt erkannte Bolsonaro seine Niederlage an, den Namen Lula erwähnte er nicht, geschweige denn, dass er ihm zum Wahlsieg gratulierte. Einer von Bolsonaros Söhnen kündigte bereits an, dass sein Vater 2026 wieder als Kandidat antreten werde.
Potpourri reaktionärer Ansichten
Das Gebaren des amtierenden Präsidenten ist ein erster Vorgeschmack auf das, was die neue Regierung erwartet. Bolsonaros Bewegung ist lebendiger denn je. Es ist nicht zu leugnen, dass ein erheblicher Teil der Brasilianer:innen seine reaktionären Ansichten teilt: die Freigabe des Waffenkaufs, die Militarisierung der Schulbildung, die Öffnung des Amazonaswaldes für die wirtschaftliche Ausbeutung, den Kampf gegen die angebliche «Gender-Ideologie». Lula da Silva wird sich mit dieser gesellschaftlichen Strömung auseinandersetzen müssen. Sie ist besonders stark im weissen Süden, dem von der Agrarindustrie geprägten Hinterland und in der städtischen Mittel- bis Oberschicht vertreten.
Auch im neuen Kongress wird der Bolsonarismus signifikant durch zahlreiche extremistische Parlamentarier:innen vertreten sein. Lula wird ohnehin erhebliches Verhandlungsgeschick beweisen müssen, um im zersplitterten Parlament mit rund 25 Parteien eine Mehrheit für einen politischen Richtungswechsel zu beschaffen. Dass er dazu allerdings in der Lage ist, hat er mehrfach bewiesen, auch im Wahlkampf. Lula gilt als Mann des Dialogs, als jemand, der Bündnisse schmieden kann. Er holte schon im Wahlkampf ehemalige Gegner:innen mit an Bord, so machte er zum Beispiel den liberal-konservativen Geraldo Alckmin zu seinem Vize-Präsidentschaftskandidaten. Und er versöhnte sich mit der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva, die einst im Zwist aus seiner Regierung ausgeschieden war.
Das Angebot steht
Als Lula mit Anhänger:innen auf der zentralen Avenida Paulista in São Paulo feierte, war ein Satz immer wieder zu hören: «Der Albtraum ist vorbei!» Die grosse Erleichterung über das Ende von Bolsonaros tumultuöser Regierungszeit war deutlich spürbar. Seine Amtszeit war bestimmt von zahlreichen verbalen Entgleisungen, der Schwächung der demokratischen Institutionen, der Zerstörung des Amazonaswalds sowie einer katastrophal gemanagten Coronapandemie mit fast 700 000 Toten und der Wiederkehr des Hungers. Auch wegen dieser Bilanz galt die Wahl als Richtungsentscheid für die brasilianische Demokratie: zwischen einem autoritären, christlich-fundamentalistischen und nationalistischen Projekt und dem Versuch, einen demokratischeren und gerechteren Staat zu schaffen.
Lula repräsentiert für viele diese Hoffnung auf ein zivilisiertes und menschliches Brasilien. In seiner Siegesrede skizzierte der 76-Jährige mit rauer Stimme – er litt 2011 unter Kehlkopfkrebs – sein künftiges Regierungsprogramm. Innenpolitisch besteht es aus der Fortführung einer Politik des sozialen Ausgleichs, der Stärkung von Bildung und Gesundheit, mehr Repräsentation für Frauen und Schwarze sowie der Bekämpfung der Armut. Wie könne es sein, dass in Brasilien, einem der weltweit grössten Lebensmittelproduzenten, Menschen wieder Hunger litten?, rief er. Allerdings wird Lula ein erheblich geschrumpftes Budget vorfinden. Er übernimmt das Land nicht zu Beginn eines Rohstoffbooms wie 2003, sondern mitten in einer internationalen Wirtschaftskrise.
Der frisch gewählte Kandidat kündigte ausserdem an, Brasilien wieder zu einem verlässlichen internationalen Partner zu machen. Noch am Wahlabend gingen die Glückwünsche von Emmanuel Macron und Joe Biden ein. Aber auch von Chiles jungem Präsidenten Gabriel Boric und von Kolumbiens linkem Staatschef Gustavo Petro, der twitterte: «Viva Lula». Lateinamerika wird nun, wie schon in den nuller Jahren, von überwiegend linken und sozialdemokratischen Regierungen geführt. Weiterhin gibt es allerdings auch links-diktatorische Unrechtsregimes wie in Venezuela und Nicaragua, von denen Lula sich nicht klar abgrenzt, was zu Recht kritisiert wird.
Schliesslich versprach Lula, die unter Bolsonaro beschleunigte Abholzung des Amazonaswalds gänzlich einzustellen – ein fast unmögliches Ziel – und Brasiliens Indigenenreservate streng vor Invasoren zu schützen. In den vergangenen vier Jahren agierten illegale Holzfäller und Goldsucher praktisch straflos. Er werde nun hingegen ein Ministerium für die indigenen Völker Brasiliens gründen, und Brasilien werde im Kampf gegen den Klimawandel wieder seinen Beitrag leisten, kündigte Lula an.
Seine wichtigste Botschaft war jedoch der Aufruf zu Einheit und Versöhnung. «Es gibt keine zwei Brasilien, es gibt nur ein Brasilien», rief er. Es war ein Angebot an eine tief gespaltene Nation. Die gelbe und grüne Fahne des Landes sei die Fahne aller Brasilianer:innen, sagte er, Hass und Spaltung müssten ein Ende haben. «Diese Wahl ist nicht mein Sieg, sie ist nicht der Sieg der Arbeiterpartei, sie ist ein Sieg der Demokratie.»
Ob Bolsonaros Anhänger:innen das Angebot annehmen und in Brasilien ab 2023 wieder so etwas wie demokratische Normalität entsteht, bleibt abzuwarten.