CU there : Begegnungszone Buch
Diese Kolumne ist ein Shout-out an die vielleicht bekannteste Person, die ebenfalls in Zürich eine Wohnung sucht(e?): Sibylle Berg.
Eine kurze Recherche ergibt, dass Sibylle Berg und ich nicht nur die widrige Kombination Kunst-machen-Wohnung-suchen-teuerste-Stadt-der-Welt gemeinsam haben, sondern auch die Herausforderung, im eigenen Wikipedia-Artikel korrekt gegendert zu werden. Dass wir beide deutsch-schweizerische Doppelbürger:innen sind und keinen Alkohol trinken. Und dass Sibylle Berg Kolumnen schreibt, ja dass Sibylle Berg vielleicht die erste Person ist, die ich als Kolumnenschreiber:in wahrgenommen habe, anno 2010 oder so, in der NZZ, die bei meinen Eltern irgendwo rumlag. Schwierig zu überprüfen, wie so einiges. Angeblich zog Berg in meinem Geburtsjahr nach Zürich oder auch später, angeblich studierte Berg Politikwissenschaft oder auch Ozeanografie, überall steht etwas anderes, ist auch egal, worauf ich hinauswill, ist, dass auch Sibylle Berg sich zu langweilen begann. Mit dem Weltuntergang.
Sibylle Berg, Chronist:in der neoliberalen Hurra-Hölle und der menschlichen Wurstigkeit, hat jetzt ein optimistisches, ein hoffnungsvolles Buch geschrieben.
Es heisst «PNR: La Bella Vita», es geht um die schöne anarchistische Welt nach der Revolution, spielt in Italien, und gleich vorweg: Ich habe es nicht gelesen, aber ich habe Sibylle Berg am Literaturfestival Buch Basel zugehört, verzaubert von den weirden Videos auf der Leinwand im Hintergrund, die entweder glückliche KI-generierte Menschen oder ganz echte gealterte Boybands vor dem Kolosseum zeigten. Endgültig iconic war dann der Moment, als mittendrin Sybille Bergs Handy klingelte, Berg den Anrufer mit einem «Kann gerade nicht» wegdrückte und sagte: «Das war mein Anwalt.» Ich traue Sibylle Berg auch zu, dass das inszeniert war, und weiss nicht, was ich grossartiger fände.
Anyway, scheinbar ist diese von Sibylle Berg beschriebene Postrevolutionsgesellschaft ziemlich boring, weil mit Gemeinschaftsarbeit und dem Ende der ständigen Überreizung der ungewohnte Zustand einkehrt, dass es erst mal nichts Zwingendes zu tun gibt. Dass es, gemessen an unserer Temposucht, langweilig wird. Kritiker:innen beschrieben das Buch deshalb auch als langweilig, aber vielleicht sind die einfach Sibylle Berg auf den Leim gegangen. Denn wenn wir einen Text, in dem die Einhaltung der Menschenrechte beschrieben wird, als banal begreifen, haben wir wirklich ein Problem, egal was Sie von Sibylle Bergs Büchern halten mögen.
Auf dem Heimweg fällt mir ein Grundsatz der in «PNR» beschriebenen Gesellschaft wieder ein, à la «Wohnraum ist keine Ware», und mir steigen Wuttränen in die Augen im Wissen, wie wenige Menschen sich aktuell auch nur eine Welt vorstellen können, in der dieser Satz wahr ist. Doch in der Begegnungszone Buch kann es möglich werden, und irgendwo müssen wir ja beginnen, darum in diesem Sinne mit Sibylle Berg gesprochen: «Schönen guten Morgen, die Welt!» und «Andiamo!».
Schriftsteller:in Laura Leupi (29) streift in der Kolumne «CU there» durch Begegnungszonen und schreibt immer freitags über öffentlichen Raum, Zugänglichkeit und Verdrängung.