«10-Millionen-Schweiz»: Die grosse Ablenkung
Vor der neusten SVP-Initiative kann nur gewarnt werden: Sie will das Asylsystem zerstören und Arbeiter:innen entrechten, zielt auf die Kündigung der Bilateralen und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nächste Woche kommt sie ins Parlament.
Bei SVP-Initiativen beginnt das Problem schon mit den Namen. Sie zwingen einen dazu, das Vokabular der Partei zu übernehmen, ihre Sichtweise und Ideologie. «Gegen Masseneinwanderung» hiess eine Initiative von 2014, «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» eine andere von 2010. Wer auch immer damals über die Initiativen sprach, implizierte zwangsläufig, dass es eine «Masseneinwanderung» oder eine «Ausländerkriminalität» als solche gebe.
Jetzt drängt die nächste SVP-Initiative in die öffentliche Debatte; in der Herbstsession wird sie vom Nationalrat beraten. Sie wirbt gleich mit zwei Titeln für sich: «Keine 10-Millionen-Schweiz! (Nachhaltigkeitsinitiative)» heisst sie. Wie also darüber reden bis zur Abstimmung im nächsten Jahr, wenn man nicht dauernd vor einem herbeifantasierten Bevölkerungskollaps warnen oder der SVP plötzlich ein Gespür für den Umweltschutz attestieren möchte?
«Ich würde von einer Ablenkungsinitiative sprechen», sagt Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg, Experte zum Aufstieg des Rechtspopulismus in der Schweiz und in Europa. «Die SVP behauptet mit ihrer Initiative, dass die Migration der einzige Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen sei – und lenkt damit von den vielschichtigen Ursachen ab und verschleiert, wie komplex die Lösung der Probleme ist.» Das bestätigt ein Blick ins Argumentarium der Partei: Ob «steigende Mieten», «überfüllte Züge», «sinkende Bildungsqualität», «Gewalt und Kriminalität» oder der «Ressourcenverschleiss» – alle diese realen oder auch vermeintlichen Probleme haben gemäss SVP eine Erklärung: das Wachstum der Bevölkerung, das wiederum einzig als Folge von Migration verstanden wird.
Frontalangriff aufs Asylrecht
Die Bezeichnung «Ablenkungsinitiative» passt auch gut, weil eine Annahme der Initiative mitnichten das Bevölkerungswachstum stoppen würde. Auch wenn sie mit kitschigen Bergbildern mit Kühen, Schafen und einer vierköpfigen weissen Familie, die über eine Alpwiese wandert, für sich wirbt, verfolgt sie im Kern ganz andere Ziele: die Zerstörung des Asylsystems inklusive Austritt aus allen internationalen Vereinbarungen sowie eine Rückkehr zum menschenverachtenden Kontingentierungssystem für ausländische Arbeitskräfte. Es lohnt sich, den langen Text der Initiative im Detail zu studieren, um diese Gefahr zu verstehen.
Die Kernforderung der Initiative lautet, dass die Zahl der Schweizer Wohnbevölkerung ab 2050 nicht mehr als zehn Millionen Menschen betragen dürfe. Danach dürfte der Bundesrat diesen Wert um einen allfälligen «Geburtenüberschuss» anpassen – die wandernde weisse Familie wäre also von Einschränkungen ausgenommen. Die Initiative zielt einzig auf die Migrations- und Asylpolitik: Bereits ab einer Zahl von 9,5 Millionen müsste der Familiennachzug von Ausländer:innen eingeschränkt werden – im Asylbereich soll ausserdem die vorläufige Aufnahme von Asylsuchenden aus Bürgerkriegsländern abgeschafft werden. Werden die zehn Millionen erreicht, sollen gemäss SVP alle «bevölkerungswachstumstreibenden» internationalen Übereinkommen gekündigt werden.
Laut bundesrätlicher Botschaft beträfe das die Europäische Menschenrechtskonvention, die Flüchtlingskonvention, die Kinderrechtskonvention sowie den Uno-Pakt II, der ebenfalls die Menschenrechte sichert. Liegt die Bevölkerungszahl schliesslich zwei Jahre hintereinander über zehn Millionen, soll auch das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt werden – was nach der Guillotineklausel, so nochmals der Bundesrat, den bilateralen Weg grundsätzlich infrage stellen und auch den Wegfall etwa der Schengen- und der Dublin-Verordnung nach sich ziehen würde.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat früh bemerkt, dass die Initiative zuerst auf das Asylrecht zielt – und veröffentlichte bereits diesen Frühling ein lesenswertes Gutachten, in dem sie von einer «äusserst radikalen Initiative» spricht.
Als Erste von dieser Radikalität betroffen wären jene, die in einem rechtlich extrem prekären Status leben: die vorläufig aufgenommenen Geflüchteten mit Status F, die zumeist aus Kriegs- und Konfliktgebieten stammen, etwa aus Eritrea, Afghanistan oder Syrien. Sie sollen nach Annahme der Initiative keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung und kein anderweitiges Bleiberecht mehr erhalten.
Dass diese Massnahme etwas an der Bevölkerungszahl ändert, ist nicht zu erwarten: Die Zahl der vorläufig Aufgenommenen ist mit 40 000 Menschen im Jahr 2024 verschwindend klein, und aufgrund des Non-Refoulement-Prinzips, das zum zwingenden Völkerrecht zählt, dürften sie sowieso nicht ausgeschafft werden. Die vorläufig Aufgenommenen würden vielmehr, so schreibt die Flüchtlingshilfe, in einen «Zustand der ohnmächtigen Aussichtslosigkeit» versetzt, ohne jede Perspektive in der Schweiz.
Überhaupt mache die Initiative Geflüchtete unbegründet zum Sündenbock, so die Flüchtlingshilfe: Mit der Kündigung der internationalen Abkommen wie beispielsweise der Flüchtlingskonvention werde das Asylrecht grundsätzlich infrage gestellt – obwohl der Anteil der Geflüchteten an der ständigen Wohnbevölkerung 2024 gerade einmal 2,5 Prozent betragen habe. Will man der SVP-Logik überhaupt folgen, kann man weiter anfügen, dass die Geflüchteten, die mit bescheidenem Einkommen häufig in kleinen Wohnungen leben, kaum etwas zum Landverschleiss beitragen – ganz im Gegensatz zu den SVP-Millionärinnen und -Milliardären mit ihren Villen.
Die Aufkündigung der Abkommen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention, hätte nicht nur Folgen für die Asylsuchenden, warnt die Flüchtlingshilfe zum Schluss. «Sie würde auch für Schweizer Bürgerinnen und Bürger den Verlust fundamentaler Errungenschaften aus diesen Vertragswerken zur Stärkung des Rechtsstaats und ihrer Grund- und Menschenrechte sowie ihrer politischen Rechte bedeuten.»


Rückkehr zum Saisonnierstatut
Um zu verstehen, welche Folgen die Initiative für den Arbeitsmarkt hat, lohnt sich die Frage, wie denn die willkürlich gesetzte Obergrenze von zehn Millionen Einwohner:innen überhaupt berechnet werden soll. Zur ständigen Wohnbevölkerung zählen gemäss Initiativtext alle Schweizer:innen mit einem Hauptwohnsitz in der Schweiz sowie alle ausländischen Staatsangehörigen mit einer Aufenthaltsdauer von – das ist die interessanteste Zahl der ganzen Vorlage – mindestens zwölf Monaten. «Die Schlussfolgerung daraus ist völlig klar», sagt Vania Alleva, Präsidentin der Unia, der grössten Gewerkschaft in der Schweiz. «Ausländer:innen sollen nicht mehr dauerhaft hier arbeiten und leben dürfen, sondern nur noch für ein paar Monate. Eine Annahme der Initiative würde damit die Rückkehr zum Saisonnierstatut bedeuten.» Die SVP wolle gar nicht weniger Migrant:innen, die in die Schweiz kommen: «Sie will entrechtete Arbeitskräfte.»
Das Saisonnierstatut ist eines der dunkelsten Kapitel der Schweiz im 20. Jahrhundert: Es beschränkte den Aufenthalt für ausländische Arbeiter:innen auf neun Monate. Verboten waren der Familiennachzug sowie der Wechsel von Wohnort und Firma während einer Saison. Das Statut war ein behördlich bewilligtes Ausbeutungsverhältnis, mit entsprechend tiefen Löhnen. Und es bedeutete eine strukturelle Verletzung des Menschenrechts auf ein Familienleben, mit den sogenannten Schrankkindern als Folge, die heimlich bei ihren Eltern in der Schweiz aufwuchsen.
Erst die Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 setzte dieser menschenunwürdigen Praxis ein Ende – heute ist der Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr von der Fremdenpolizei abhängig. Zumindest EU-Bürger:innen können hier leben, sofern sie über eine Arbeitsstelle verfügen. Wenn nun also die SVP die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU fordert und wenn auch künftig Ausländer:innen kommen dürfen, sofern sie sich nicht dauerhaft hier niederlassen, dann ist die Rückkehr des Saisonnierstatuts kein Gespenst der Gewerkschaften, sondern eine sehr reale Bedrohung.
Was für das Asylrecht gilt, stimmt auch bei der Personenfreizügigkeit: Betroffen von den Massnahmen sind am Ende fast alle. Eine Aufkündigung der bilateralen Verträge würde das Aufenthaltsrecht für alle 1,5 Millionen in der Schweiz lebenden EU-Bürger:innen infrage stellen. Wie der Bundesrat in seiner Botschaft festhält, dürften umgekehrt auch die halbe Million Schweizer:innen, die in der EU leben und arbeiten, kaum mehr mit einem gesicherten Aufenthalt in ihren Gaststaaten rechnen. Auch der Lohnschutz, der an die Bilateralen gekoppelt ist, würde hinfällig.
Eine Erweiterung der EU-Verträge, die derzeit schon weit umfassender diskutiert wird als die SVP-Initiative, wäre nach deren Annahme im Übrigen Makulatur: Der europapolitische Showdown folgt nicht in einer fernen Zukunft nach den Wahlen 2027, wie sich das viele Politiker:innen gerne wünschen – er findet bereits nächstes Jahr statt.
Immer wieder Angstdiagnostik
Mit der Warnung vor einem Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahrzehnten wirkt die SVP zukunftsgerichtet. Und auch einzelne Medien sind empfänglich für solche Prognosen – nach dem «Dichtestress», der in der Auseinandersetzung um die «Masseneinwanderung» gerne erwähnt wurde, ist neuerdings häufiger von «Wachstumsschmerzen» zu lesen, als reagiere die SVP auf eine aktuelle Entwicklung. Ist tatsächlich etwas neu an der Initiative?
«Im Gegenteil», sagt Historiker Damir Skenderovic. «Die Initiative steht in einer langen Tradition diskriminierender Initiativen – diskriminierend in dem Sinne, dass sie auf eine Abwertung und Ausgrenzung sogenannter Ausländer:innen zielen.» Diese seien immer wieder mit bevölkerungspolitischen Argumenten vermischt worden. «Bereits im Begriff ‹Überfremdung›, den der Armensekretär Carl Schmid um 1900 geprägt hat, war die Vorstellung eines Volkskörpers mit einer begrenzten Zahl von Mitgliedern angelegt», sagt Skenderovic.
Der Begriff wurde im 20. Jahrhundert äusserst wirkmächtig und führte unter anderem zur «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach, die 1970 nur knapp verworfen wurde. Sie forderte, dass der Ausländer:innenanteil in der Schweiz höchstens zehn Prozent betragen dürfe. Mit dieser Vorlage, sagt Skenderovic, lasse sich die neue SVP-Initiative gut vergleichen. «Damals ging es um zehn Prozent, heute geht es um zehn Millionen: Mit Bevölkerungsstatistiken, die eine scheinbar wissenschaftliche Grundlage liefern, wird ein angebliches Zuviel an Menschen konstruiert.» Diese Angstprognostik, statistisch hergeleitet und politisch emotionalisiert, sei bei Abstimmungen äusserst verfänglich.
Vergleichen lässt sich die SVP-Initiative auch mit der Ecopop-Vorlage, die 2014 abgelehnt wurde und die eine jährliche Beschränkung des Bevölkerungswachstums in der Schweiz mittels Migrationsabwehr auf 0,2 Prozent forderte. Die Ecopop-Initiant:innen stammten ursprünglich aus einem umweltpolitischen Umfeld, argumentierten mit einer ökologischen Wachstumskritik – die Widersprüchlichkeit ihrer Ideen zeichneten der grüne Nationalrat Balthasar Glättli und Ko-Autor Pierre-Alain Niklaus damals im Buch «Die unheimlichen Ökologen» nach. Vermengen sich nun die Ecopop-Argumente mit jenen der SVP?
«Ich würde eher vermuten, dass sich die SVP bei der Lancierung der Initiative, die auf dem Höhepunkt der grünen Wahlerfolge stattfand, ein nachhaltiges Mäntelchen umlegen wollte», sagt Balthasar Glättli. «Ob in der Raumplanung oder beim Autobahnausbau auf acht Spuren: Wachstumskritik interessiert die Partei bekanntlich ebenso wenig wie die Rechte von Geflüchteten oder von Migrant:innen.»
Auf der linken Seite ist man sich der Gefahr, die von der SVP-Initiative ausgeht, bewusst. An der Migrationskonferenz des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds vom letzten Samstag kündigte Präsident Pierre-Yves Maillard an, dass man die Initiative nicht als Nebensächlichkeit betrachte, sondern sie mit voller Kraft bekämpfen werde. Auch die politischen Parteien wollen sich stark engagieren, bestätigt Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone. «Wir sollten uns im Abstimmungskampf nicht mit den Nebelpetarden der SVP zu den Mieten oder der Zersiedlung aufhalten. Wir wissen, was da die richtigen Rezepte sind. Stattdessen müssen wir den wahren Charakter der Initiative betonen: Es geht um ein ausländerfeindliches Anliegen, die Entrechtung migrantischer Arbeiter:innen.» Eine solch wertebasierte Argumentation gegen die SVP sei nötig, um das eigene Lager voll zu mobilisieren. «Nur so können wir gewinnen.»