SVP-Kündigungsinitiative: Die Mär von der Steuerung

Nr. 12 –

Ein Blick in die historische Statistik zeigt: Nicht die Migrationspolitik, sondern die Konjunktur beeinflusst die Zuwanderung in die Schweiz am meisten. Mit ihrer Begrenzungsinitiative geht es der SVP einmal mehr darum, MigrantInnen zu entrechten und die Löhne zu drücken.

Wird die SVP-Initiative angenommen, sind auch Saisonniers wieder denkbar: Auf der Einwohnerkontrolle in Schaffhausen. Foto: Christian Beutler, Keystone

Am 7. Juni steht in der Schweiz ein zweifelhaftes Jubiläum an. Dann wird es fünfzig Jahre her sein, dass die Schweizer Männer über die «Überfremdungsinitiative» von James Schwarzenbach abstimmten. Der Spross einer Textilindustriellendynastie forderte, dass der Anteil der AusländerInnen an der Wohnbevölkerung nur zehn Prozent betragen solle. Die Schwarzenbach-Initiative wurde knapp, mit 54 Prozent Nein, abgelehnt. Fast auf das Datum genau wird der Jahrestag auf gespenstische Weise begangen: Am 17. Mai* muss die Schweiz erneut über ein ausländerfeindliches Anliegen abstimmen, das in seiner Tragweite mit dem von Schwarzenbach vergleichbar ist: über die SVP-Begrenzungsinitiative.

Hinter der Initiative steht der Milliardär Christoph Blocher, dem der mediengewandte Schwarzenbach als historisches Vorbild dient. Neben der inhaltlichen Kontinuität gibt es auch eine personelle: Der frühere Sekretär Schwarzenbachs, der heutige «Schweizerzeit»-Verlagsleiter Ulrich Schlüer, ist immer noch im Einsatz. Er hat in Ortschaften wie Sarnen und Weinfelden Infokurse angekündigt: «Um was geht es? Was sind die Fakenews? Wie schreibe ich Leserbriefe? Wie kommentiere ich auf Facebook, Twitter und Onlineportalen der Medien?».

SVP vermischt alles

Am 17. Mai geht es um nichts weniger als um die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU. Die Diskussion dürfte erwartungsgemäss verlaufen – sofern die Abstimmung angesichts der Coronakrise überhaupt stattfinden kann. Die Wirtschaftsverbände betonen in ihrer bereits gestarteten Kampagne den massiven ökonomischen Schaden, den das Ende der Personenfreizügigkeit bringen würde. Die Gewerkschaften verweisen darauf, dass mit einer Aufkündigung auch die flankierenden Massnahmen wegfallen würden, die gegen Lohndumping und Schwarzarbeit wirksam sind. Und eine breite gesellschaftliche Allianz, von der Operation Libero bis zum Bahnproduzenten Peter Spuhler, selbst Mitglied der SVP, warnt vor der Aufkündigung der bilateralen Verträge. Die GegnerInnen sprechen deshalb von einer «Kündigungsinitiative».

Die SVP wiederum dürfte alles mit allem vermischen: Die Personenfreizügigkeit, das Coronavirus und auch die Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze werden bestimmt herbeizitiert werden. Einen Vorgeschmack gab am Wochenende einer ihrer Publizisten, der bei der «SonntagsZeitung» parkierte Markus Somm. Somm betitelte seine Kolumne mit «Willkommenskultur für ein Virus» und meinte damit die Personenfreizügigkeit. Als ob sich nicht gerade im Tessin, wo 4000 GrenzgängerInnen in den Spitälern arbeiten, deren Bedeutung zeigen würde. Ohne ihre Arbeit würde das Schweizer Gesundheitssystem sofort kollabieren.

Ursache und Wirkung

Für einen klaren Kopf lohnt es sich, den Initiativtext näher anzuschauen. «Die Schweiz regelt die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig», heisst es darin. Der Text fordert damit fast das Gleiche wie die 2014 hauchdünn angenommene «Masseneinwanderungsinitiative», die von einer «eigenständigen Steuerung» der Migration sprach. Der Unterschied liegt einzig darin, dass die neue Initiative die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit in die Verfassung schreiben will. Diese müsste bei Annahme der Initiative innerhalb nur eines Jahres erfolgen. Um die eigentliche Absicht der SVP hinter ihren Initiativen zu verstehen, lohnt es sich zu hinterfragen, was sie als gegeben voraussetzt: dass sich nämlich der Zuzug von Arbeitskräften überhaupt regulieren oder steuern lässt.

Das Modell der Personenfreizügigkeit folgt dem Grundsatz, dass EU-BürgerInnen in der Schweiz arbeiten dürfen, wenn sie hier eine Stelle finden. Das Gleiche gilt umgekehrt für SchweizerInnen im EU-Raum. Die SVP will mit der Aufkündigung zurück zum Kontingentierungssystem, das bis 2002 galt. In diesem System wurden jährlich Kontingente von AusländerInnen für einzelne Unternehmen oder Branchen bestimmt und von der Fremdenpolizei bewilligt. Aus einer historischen Perspektive ist dabei eine Erkenntnis bemerkenswert: Nicht das jeweilige Migrationsregime war für die Frage entscheidend, wie stark die Zuwanderung in bestimmten Jahren war. Vielmehr waren es die Bedürfnisse der Wirtschaft nach Arbeitskräften und die Konjunktur.

Diese Regel zeigte sich bereits in der Wachstumsphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anteil der MigrantInnen verdoppelte sich auf eine halbe Million. Viele durften nach dem Rotationsprinzip nur als Saisonniers in die Schweiz kommen. Sie arbeiteten für weniger als zwölf Monate auf dem Bau, in der Industrie oder in der Landwirtschaft. Ab den sechziger Jahren unternahm der Bund Schritte, um den Anteil der AusländerInnen zu kontingentieren. Merklich zurück ging dieser aber erst wegen der Erdölkrise. «In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre waren es weniger die Kontingentierungsmassnahmen als vielmehr die Rezession, die die ausländische Präsenz in der Schweiz reduzierte», heisst es in «Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert».

Dieses Muster hat sich später mehrfach wiederholt. Das zeigt eine Zahlenreihe, die Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), zusammengetragen hat. So verlief ein weiterer grosser Rückgang der Migration parallel zur Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren. 2002 schliesslich wurde die Personenfreizügigkeit eingeführt. Erst stieg die Zuwanderung markant an, dann flachte sie wieder ab. 2018 betrug sie aus den EU/EFTA-Staaten nur noch 30 000 Personen. Diese Entwicklung, so Lampart, hatte weniger mit dem neuen Modell der Personenfreizügigkeit zu tun als mit dem Boom der nuller Jahre. Die Digitalisierung führte generell zu einer Internationalisierung der Arbeitsmärkte. Mit der Währungsaufwertung der Schweiz im Nachgang zur Finanzkrise und ihren negativen Folgen nahm die Migration dann wieder ab.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz blieb im Übrigen bislang in all den Jahren der Personenfreizügigkeit auf rekordverdächtig tiefem Niveau. Die MigrantInnen, viele von ihnen FachspezialistInnen, haben der Schweiz ein überdurchschnittliches Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum ermöglicht.

Ein böser Traum

Dass es Blocher vermutlich gar nicht um die Beschränkung der Migration geht, hat er unlängst selbst zugegeben. «Die Zuwanderung soll sich jährlich nach den Bedürfnissen der Wirtschaft richten. Deshalb braucht es variable Kontingente», sagte er in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». Wenn nun aber die Unternehmen offenkundig immer die Arbeitskräfte bekommen, die sie sich gewünscht haben: Warum braucht es dann jetzt wieder einen Systemwechsel zu den Kontingenten? Die Vermutung liegt nahe, dass die Milliardärspartei SVP ein anderes Ziel verfolgt: Sie will die Personenfreizügigkeit aufheben, weil diese die Rechte der MigrantInnen stärkt und die flankierenden Massnahmen die Löhne aller schützen.

«Wir holten Arbeitskräfte, und es kamen Menschen»: Der berühmte Satz des Schriftstellers Max Frisch brachte die mit dem Kontingentierungssystem und dem Saisonnierstatut einhergende Entwürdigung der MigrantInnen auf den Punkt. Sie wurden auf ihre Arbeitskraft reduziert und durften ihre Familien nicht in die Schweiz holen. Ihre Diskriminierung wirkte sich auf die Volkswirtschaft als Gesamtes aus. Entsprechend ihrem prekären Status waren die Löhne tief – und diese Tieflöhne zogen das Lohngefüge für alle nach unten. Ein weiteres Problem war die Schwarzarbeit, die insbesondere in der Landwirtschaft grassierte. In Boomphasen habe die Wirtschaft die Kontigentierung mit Schwarzarbeit umgangen, schreibt der Gewerkschafter Vasco Pedrina in seiner historischen Studie mit dem Titel «Von der Kontingentierungspolitik zur Personenfreizügigkeit». Erst mit den Lohnkontrollen, die mit den flankierenden Massnahmen möglich wurden, ging die Schwarzarbeit zurück.

Die Begrenzungsinitiative will nicht nur die Personenfreizügigkeit aufkündigen. Sie schreibt auch in die Verfassung, dass es eine solche in Zukunft nicht mehr mit einem neuen Vertrag geben darf. Auf eine Annahme am 17. Mai würde also auf jeden Fall ein Migrationsregime folgen, das wieder eine stark diskriminierende Wirkung hat und in dem Saisonniers wieder denkbar wären. Damit würde der Arbeitsmarkt, von dem die Firmendynastien von Schwarzenbach bis Blocher wohl träumen, wieder Wirklichkeit: Sie hätten entrechtete und fügsame Beschäftigte.

* Kurz vor Redaktionsschluss wurde die Abstimmung wegen der Coronaviruskrise auf unbestimmte Zeit verschoben.