Alltag in Israel: Quartierleben im Ausnahmezustand
Seit rund einer Woche herrscht zwischen dem Iran und Israel ein Waffenstillstand. In Musrara, einem der durchmischtesten Viertel von Jerusalem, sehnen sich die Menschen nach Normalität.

«Niemand kommt mehr in unser Restaurant», sagt Musa Jaber und schüttelt den Kopf. Nicht die Einheimischen, die in diesen unsteten Zeiten lieber zu Hause essen, als auswärts Geld auszugeben – und nicht die Tourist:innen, die früher den Grossteil der Gäste in Jabers Lokal im Viertel Musrara in Jerusalem ausmachten. Seit anderthalb Jahren fehlen die Reisenden in der ganzen Stadt: in Restaurants und Bars, in den Hotels, auf den Strassen. «Vor dem Krieg in Gaza reichte der Platz nicht aus, wir mussten Tische im Garten aufstellen. Heute haben wir keine Arbeit mehr», sagt der Wirt und deutet auf sein verwaistes Lokal. Es ist Mittagszeit, doch nur an einem Tisch sitzen zwei Kunden. Vor ihnen duften frisch gebackenes Fladenbrot und arabische Vorspeisen.
Jaber, 35 Jahre alt, schwarzer Bart und Jeans, ist wie auch die meisten seiner Angestellten Palästinenser und wohnt im Quartier, das westlich der unsichtbaren Grenze liegt, die Ost- von Westjerusalem trennt. Er kennt den Stadtteil und seine Geschichte. «Das Gebäude, in dem wir uns befinden, stand schon vor der Gründung Israels und gehörte damals einer türkischen Familie», erzählt er und zeigt auf die gewölbten Decken und Wände aus beigen, nackten Steinen.
Kaum Schutzräume in alten Häusern
Musrara zählt zu den durchmischtesten Vierteln Jerusalems. Hier, in der Nähe der Altstadt, lebten früher etwa wohlhabende arabische Christ:innen. Heute wohnen in den alten Häusern aus Kalkstein ultraorthodoxe und säkulare Jüdinnen und Juden, Araber:innen, Migrant:innen ebenso wie Studierende der hier gelegenen Kunsthochschule und linke Israelis. Durch Musraras Strassen zu schlendern, unter ausladenden Feigen- und Granatapfelbäumen, ist wie ein Tauchgang in die komplizierte Geschichte des Landes – und gibt Aufschluss über die Stimmung in verschiedenen Teilen der Bevölkerung seit Beginn des Ausnahmezustands, der auf den 7. Oktober 2023 folgte.
Viele hätten Angst, sagt Musa Jaber. Vor dem Krieg in Gaza, vor dem Konflikt mit der Hisbollah, vor den Raketen aus dem Jemen, vor dem Krieg mit dem Iran. Als sich Israel und der Iran im Juni gegenseitig beschossen, hatte Jaber keinen eigenen Schutzraum zur Verfügung. «Moderne Gebäude haben solche Räume, ältere wie dieses nicht. Sollte hier etwas passieren, wird es schwierig», bestätigt Nadeen Ishtayeh, die Köchin in Jabers Restaurant. Der nächste öffentliche Bunker liegt etwa vier Minuten und zwei viel befahrene Kreuzungen entfernt. In den heissen Phasen des Konflikts musste das Lokal schliessen – auch wenn in Jerusalem, anders als in Tel Aviv, Haifa und Beer Scheva, kaum Raketen einschlugen.
Über Politik wollen weder Jaber noch Ishtayeh reden. Zum Krieg mit dem Iran sagt Jaber nur: «Das ist etwas zwischen der israelischen und der iranischen Regierung. Das betrifft uns nicht.» Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober fürchten sich viele Araber:innen in Israel, die etwa ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, vor Repressalien.
Jemand, der frei über Politik spricht, ist der 28-jährige Roei Menashe, der gerade am Esstisch in seiner WG sitzt. Er bezeichnet sich als Linken, Juden, Israeli und als «Nahostler». Menashe arbeitet für verschiedene NGOs, unter anderem im Bereich Kommunikation. Welche das sind, möchte er nicht öffentlich machen. Was er sagt: Er gehört zu jenen, die sich ein Ende des Krieges in Gaza wünschen. «Menschen werden verletzt, die ganze Zeit, überall, in Israel, in Palästina», sagt er. Die Behauptung einer unmittelbaren Bedrohung durch den Iran sei «Schwachsinn» gewesen, und der jüngste Angriff habe die Lage nur noch verschlimmert. «Jetzt hassen sie uns definitiv.»
Menschen, die denken wie er, sind derzeit nicht gerade in der Mehrheit. Laut einer Umfrage der Hebrew University, die Mitte Juni publiziert wurde, befürworteten 83 Prozent der jüdischen Israelis den Angriff auf den Iran. Mehr als die Hälfte fanden, er habe den nationalen Zusammenhalt gestärkt. Gleichzeitig ist das Vertrauen in die Regierung und den Premierminister Benjamin Netanjahu nach wie vor sehr gering. Die Proteste gegen den Krieg in Gaza und gegen die Regierung wurden seit der Aufhebung des Versammlungsverbots, das während des Irankriegs galt, wieder aufgenommen.
Der Raketenhagel sei furchteinflössend gewesen, sagt Menashe. Da Musrara so nah am Tempelberg und an der Al-Aksa-Moschee liege, habe er sich hier aber auch ohne Schutzraum sicherer gefühlt als anderswo. Sowohl Musliminnen als auch Juden betrachten diese Orte als heilig. Die Sirenen und die lauten Explosionen der Abfangraketen, die klangen, als würden sie Häuser und Boden durchbohren, waren für die Bevölkerung dennoch beängstigend.
Nun ist vorerst wieder Ruhe eingekehrt. Das Schöne an Musrara sei das Multikulturelle, sagt Menashe. «Geht man zwanzig Meter, trifft man auf drei verschiedene Religionen.» Das Viertel ist eine Art Mikrokosmos – viele Paralleluniversen wie Seifenblasen, die sich immer wieder mal berühren. Etwa wenn religiöse Jüdinnen beim palästinensischen Gemüsehändler einkaufen.
Eine bewegte Geschichte
Musrara, wo bis zum Sechstagekrieg 1967 die Grenze zwischen Jordanien und Israel verlief, erlebte in seiner Vergangenheit Gewalt, später Armut und Vernachlässigung. In den siebziger Jahren entstand hier die israelische Black-Panther-Bewegung, die sich gegen die Diskriminierung von nordafrikanischen und nahöstlichen Jüd:innen engagierte. In der jüngeren Geschichte erfolgte eine Gentrifizierung, und es zogen vermehrt Ultraorthodoxe ins Viertel. Eine von ihnen ist Rahel Levi, die in Wahrheit anders heisst. Die 36-jährige jemenitische Jüdin sitzt unter den Bäumen auf einem Spielplatz nahe des Hochhauses, in dem sie lebt. Vor sieben Jahren ist sie von Petah Tikva in der Nähe von Tel Aviv nach Jerusalem gezogen, da ihr Mann nahe der heiligen Stätte leben wollte.
Levi trägt ein oranges Kopftuch, ein weisses Hemd und einen langen, schwarzen Rock. Sie hat ein rundes Gesicht und lächelt viel, in den Händen hält sie einen kleinen Teller mit gelbem Kurkumareis für ihren kleinen Sohn. An Musrara schätzt die Mutter von fünf Kindern im Alter von zwei bis neun Jahren nicht nur die Lage, sondern auch den Zusammenhalt: «Als ich heiratete, kannte ich niemanden hier. Aber dieses Viertel ist wie eine grosse Familie – man kocht füreinander und passt gegenseitig auf die Kinder auf.»
Levi, die als Lehrerin in einer Sonderschule arbeitet, sagt zum jüngsten Krieg: Wenn der Iran die Israelis töten wolle und terroristische Gruppen bewaffne, müsse er auch mit einer Reaktion der israelischen Armee rechnen. «Wir haben das Recht, uns zu verteidigen.» Dass dem israelischen Geheimdienst die Operation im Iran gelungen sei, sei «ein Wunder», das Werk Gottes, um das jüdische Volk zu schützen, sagt sie. Angst habe sie während der Angriffe trotzdem gehabt.