Israel/Palästina: Die Wut entlädt sich in Ostjerusalem immer wieder von neuem
Ostjerusalem ist zum Zentrum eines neuen palästinensischen Aufstands geworden. Die Bevölkerung hat genug von der israelischen Besatzung. Die Lage ist explosiv.
Die palästinensischen BewohnerInnen Jerusalems proben den Aufstand. Das Fass zum Überlaufen brachte die Ermordung des sechzehnjährigen Muhammad Abu Chdeir am 2. Juli. Er stammte aus dem Jerusalemer Stadtteil Schufat, von wo ihn israelische Extremisten entführten und aus Rache für den Tod dreier junger Siedler lebendigen Leibs verbrannten. Seither gibt es in Jerusalem keine Ruhe mehr.
Im Zentrum des Aufstands steht der Haram al-Scharif, der Heilige Bezirk, der seit Jahren zunehmend ins Blickfeld extremistischer jüdischer Israelis gerückt ist. Ihr Ziel ist es, auf dem Tempelberg den Tempel Salomons wieder aufzubauen, was implizit bedeutet, dass die unvergleichlich bedeutsame Al-Aksa-Moschee und die Felsendom-Moschee vorher zerstört würden. Vor knapp dreissig Jahren war es nur ein winziges Häuflein von Extremisten, die jährlich einen Grundstein vor die Mauern der Altstadt schleppten, um ihren Absichten physischen Ausdruck zu verleihen. Inzwischen sind es jedoch Tausende, die jeweils die propagandistischen Veranstaltungen der ExtremistInnen besuchen und den Wiederaufbau des Tempels fordern.
Stinkende Flüssigkeit
Seit der Ermordung Abu Chdeirs herrscht in Schufat Ausnahmezustand. Die Einrichtung der Tramlinie, die von den israelischen Siedlungen im Norden Ostjerusalems quer durch die palästinensischen Vororte bis in den Süden Westjerusalems führt, wurde angegriffen und demoliert. Tagelang musste die Grenzpolizei jüdische und palästinensische Viertel voneinander abriegeln, um weitere Gewalttaten zu verhindern. Seitdem köchelt der Aufstand weiter mit immer neuen punktuellen Ausbrüchen.
Die israelische Regierung reagiert mit zunehmender Gewalt. Dem Einsatz von Tränengas folgten Gummigeschosse, immer wieder auch scharfe Munition und seit neustem das Verspritzen von stark stinkender Flüssigkeit, die tagelang auf Kleidern und Körpern haften bleibt.
Die PalästinenserInnen ihrerseits versammeln sich zu immer neuen Demonstrationen. Jugendliche werfen zudem immer wieder Steine gegen die Jeeps der Grenzpolizei. Inzwischen sind auch mehrere tödliche Attentate mit Messern und Autos auf jüdische Israelis verübt worden, die an Haltestellen der Strassenbahn oder vor Polizeistationen warteten.
Zunehmende Abtrennung
Ostjerusalem ist seit 1967 eine Art Kolonie Israels, geprägt durch die Ungleichheit zwischen den BesatzerInnen und den Kolonialisierten. Die internationale Öffentlichkeit registriert vorzugsweise die verzweifelte Gegengewalt der Unterdrückten, während man über die jahrzehntelange Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung in Ostjerusalem hinwegsieht (vgl. «Kontinuierliche Unterdrückung» im Anschluss an diesen Text).
Seit dem Friedensabkommen zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Israel von 1993 in Oslo wird Ostjerusalem vom natürlichen historischen Umfeld der Westbank immer mehr getrennt; sowohl durch einen ganzen Ring von Siedlungen um Ostjerusalem als auch durch Armeesperren und eine Mauer. Die palästinensische Autorität in Ramallah hat bis dato erfolgreich jeden landesweiten Aufstand gegen die Besatzung verhindert. Hier greift nach wie vor die in Oslo vereinbarte «Sicherheitskooperation», an die sich der palästinensische Präsident Mahmud Abbas bis heute hält. Er scheint weiterhin auf einen Erfolg von neuen Verhandlungen unter Vermittlung der USA zu hoffen – trotz der offen proklamierten israelischen Politik, keinen palästinensischen Staat zu ermöglichen.
Die palästinensische Bevölkerung folgt ihm auf diesem Kurs allerdings schon lange nicht mehr. Eine Bewegung, die stark genug wäre, sich in der Westbank durchzusetzen, hat sich jedoch noch nicht herausbilden können. Beide grossen Parteien, die Fatah von Mahmud Abbas wie die Hamas von Ismail Hanijeh in Gaza, mobilisieren zwar die Bevölkerung zum Aufstand. Während sich dies seitens der Fatah bis heute vor allem auf die verbale Ebene beschränkt, drängt die Hamas dagegen zum Massenaufstand. Die Unterstützung aus der Bevölkerung in der Westbank und in Ostjerusalem gilt daher vor allem ihr, wie Umfragen seit dem Krieg gegen Gaza zeigen.
Beruhigung nicht absehbar
Ostjerusalem ist deshalb zum Zentrum des palästinensischen Aufstands geworden, weil hier ein direkter Konflikt zwischen der Besatzungsmacht und den Unterdrückten ausgetragen wird. Denn in Ostjerusalem ist keine palästinensische Autorität dazwischengeschaltet, die im Dienst der Besatzung das Besatzungsregime aufrechterhält, obwohl ihr deklariertes Ziel eigentlich die Unabhängigkeit und die Beendigung der Besatzung ist.
Wie wird sich die Lage weiter entwickeln? Angesichts der gegenwärtigen Politik der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu, die auf den Aufstand in Jerusalem einzig und allein mit Gewalt und der Expansion von Siedlungen reagiert, ist kaum mit einer Beruhigung der Lage zu rechnen. Die PalästinenserInnen in Ostjerusalem haben die Nase voll. Vor allem aber sehen sie keine politischen Optionen mehr für sich. Schon die Kinder im Alter von neun, zehn und elf Jahren sind geprägt von der Erfahrung fortwährender Gewalt, die gegen ihre Familie, ihre Verwandten, ihr Viertel, ihre religiöse Gemeinschaft und ihre gesamte Gesellschaft ausgeübt wird.
Weil das Symbol dieses Aufstands der Haram al-Scharif mit seinen beiden Moscheen ist, hat der Konflikt eine zutiefst religiöse Dimension angenommen. Diese ist um ein Vielfaches explosiver als jeder nationale Konflikt. Der Haram al-Scharif ist jedoch – und das scheinen Netanjahu und seine Regierung nicht wahrnehmen zu wollen – nicht nur ein religiöses Symbol und Zentrum für die PalästinenserInnen, sondern für alle Muslime weltweit. Jordanien hat als erster arabischer Staat reagiert und seinen Botschafter aus Tel Aviv abgezogen sowie eine Teilnahme an den ursprünglich vorgesehenen Feiern des jordanisch-israelischen Friedensvertrags von 1994 abgesagt.
Sollte Israel nicht bereit sein, in Ostjerusalem einzulenken und Schritte in Richtung Beendigung der Besatzung und Errichtung eines palästinensischen Staats zu unternehmen, wird die Stadt weiterhin von Gewalt dominiert bleiben. Wohin dies die Menschen in der Stadt führen wird, will man sich lieber nicht vorstellen.
Helga Baumgarten ist Professorin für Politikwissenschaft an der palästinensischen Universität Bir Seit nördlich von Jerusalem.
Leben in Ostjerusalem : Kontinuierliche Unterdrückung
Seit Beginn der Besatzung 1967 werden die palästinensischen BewohnerInnen in Jerusalem systematisch unterdrückt. Die Privilegien, die ein israelischer Personalausweis gewährt – etwa freie Mobilität und Teilnahme am israelischen Sozialsystem – gelten für sie nur vordergründig. Denn die PalästinenserInnen in Jerusalem verfügen nur über den Status einer «ständigen Aufenthaltsgenehmigung». Ob dieser längerfristig aufrechterhalten wird, wissen sie nicht. Sie bekommen in Ostjerusalem nur unter grossen Schwierigkeiten (wenn überhaupt) eine Baugenehmigung. Andererseits werden palästinensische Häuser regelmässig zerstört. Zugleich weitet sich die Präsenz israelischer SiedlerInnen im Osten der Stadt sowie in den muslimischen, christlichen und armenischen Vierteln der Altstadt aus.
Dagegen wurde seit 1967 kein einziges neues Wohnviertel für PalästinenserInnen errichtet. Die Versorgung mit Krankenhäusern ist zusehends schlechter geworden. Die Schulen in Ostjerusalem reichen für die mehrheitlich junge Bevölkerung nicht aus, und an den bestehenden Schulen ist sowohl die Ausstattung als auch der Unterricht auf einem Niveau, das weit unter demjenigen von jüdisch-israelischen Schulen liegt. Die Diskriminierung von PalästinenserInnen in Jerusalem hat generell zugenommen; im Westteil der Stadt werden sie regelrecht verfolgt. In Einkaufszentren sind junge PalästinenserInnen von jungen Israelis krankenhausreif geschlagen worden – oft mit dem Argument, jüdische Mädchen vor den Arabern schützen zu müssen.
Helga Baumgarten