Ein Traum der Welt: Die Welt in Splittern
Annette Hug gerät in Parallelwelten

In Gedanken war ich in Manila, im September 1972, als dort Ferdinand Marcos das Kriegsrecht ausrief. Im Roman, den ich gerade übersetze, kommt auch die Begründung vor: Armee und Polizeikräfte müssten vorübergehend die Demokratie schützen, es drohe ein kommunistischer Umsturz. Dann hörte ich Nachrichten und meinte, in einen Zeitloop geraten zu sein: Der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol ruft das Kriegsrecht aus, angeblich um einer kommunistischen Gefahr zu begegnen.
Vor etwas mehr als einem Monat hat der libanesisch-französische Theatermacher Wajdi Mouawad in einem Gespräch mit der Zeitung «Le Monde» gesagt: «Mit dem absehbaren Sieg Donald Trumps werden wir in eine Ära eintreten, in der sich Gewalt als rechtmässige Ausdrucksform darstellt. Von Washington bis Moskau, von Teheran bis Tel Aviv, von Peking bis Washington.» Und jetzt in Seoul.
Mouawad wurde von «Le Monde» zu den Zerstörungen im Libanon befragt. Er sprach über die Folgen der israelischen Angriffe auf Verwandte, Bekannte, Unbekannte, aber auch von der Klimakrise, von einem Bankrott unserer Epoche: «Wir müssen eine grosse Solidarität beweisen, um durch die Kloake zu kommen, die bevorsteht, um weiterhin mit kleinen Gesten unsere Beziehung zu den anderen aufrechtzuerhalten. Eine Beziehung, in der Güte und Zuneigung, wie die vom Aussterben bedrohten Insekten, bewahrt werden, um irgendwann auch wieder befruchtet werden zu können. Zweifellos nicht mehr in unserer Lebenszeit. Für uns, fürchte ich, ist es ein bisschen zu spät.»
Was ist das für ein Mensch, der so etwas sagt? Im Theater La Colline, das Wajdi Mouawad in Paris leitet, ist eine Antwort in fünf Varianten zu sehen. Das Stück dauert sechs Stunden. Es geht von einer realen Situation aus: Im August 1978 entschied Mouawads Vater, es sei Zeit, aus dem Bürgerkrieg im Libanon zu fliehen. Plötzlich musste alles schnell gehen. Vorsorglich hatte er für die ganze Familie französische und italienische Visa organisiert. Der älteste Sohn sollte am Flughafen Beirut den erstmöglichen Flug buchen. So war es Zufall, dass die Familie in Paris landete, nicht in Rom.
Mouawads Stück «Die Quadratwurzel des Verbes ‹sein›» fächert fünf parallele Leben auf, fünf Möglichkeiten, wie es hätte kommen können – im Libanon, in Paris, Rom oder Amerika –, und alle Varianten kommen im August 2020 an einen Wendepunkt: In Beirut ist eine Hafenhalle explodiert, ein ganzes Viertel zerstört. Vor dieser Kulisse spielen sich unterschiedlichste Familiendramen ab. Getaktet wird alles von Telefonaten zwischen Kontinenten, Flugschleusen, dem Auf und Zu von Wohnzimmertüren.
Während ich in Berlin an einer Jurysitzung erfahren habe, dass unsere Weiterarbeit im Frühling noch unsicher sei, weil man nicht wisse, ob dann eine Regierung Angaben zum Kulturbudget machen könne, und zurück in Paris auch gerade die Regierung aufgelöst wurde, dafür aber schwerbewaffnete Sicherheitskordons die Strassen rund um das Gebäude, in dem ich wohne, sperren – es wird hier nur eine Kirche eröffnet –, da habe ich das Gefühl, gar nie aus dem Theater La Colline herausgekommen zu sein. Das ist gut so. Einer, der schon mit zehn Jahren wusste, dass nichts sicher ist, kann heute ein Spiel veranstalten, das vielleicht für die Wirklichkeit wappnet.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin.