Ein Traum der Welt: Han Kang und weiter

Nr. 42 –

Annette Hug sieht Korea als Knotenpunkt

«Menschenwerk» heisst der Roman, mit dem Han Kang in ihrem eigenen Land am meisten Aufmerksamkeit erregt hat. Da begegnen sich Leute in einer Leichenhalle. Sie suchen jemanden unter den Opfern des Massakers von Gwangju. Im Mai 1980 hatte das südkoreanische Militär Proteste von Student:innen mit extremer Gewalt aufgelöst. Wobei der Protest dann doch weiterging, aber anders. Im Roman findet eine Theateraufführung statt, bei der die Schauspieler:innen ihren Text nur stumm sprechen. Man hört nichts. Nur wer erahnt, was sie sagen, kann die Worte in etwa von den Lippen ablesen.

Seit dem Ende der Diktatur 1987 ist es möglich, laut zu sprechen. Aber viel Wichtiges kommt nur in stillen Büchern zur Sprache. Han Kangs Romane nehmen die Nachwirkungen der Gewalt auf, die in den dominanten Filmen, Serien, im K-Pop und in den Neubauvierteln Seouls kaum zu erkennen sind – obwohl südkoreanische Filme bekannt dafür sind, dass sie oft unglaublich blutige Szenen enthalten. Aber da ist die Gewalt barock, Blut und Fleisch wirken wie gemalt. In den Serien, nach denen man leicht süchtig werden kann, kommen manchmal auch protestierende Student:innen vor. Wenn an Demos skandiert wird, wirkt das aber nett und gestellt. Im Alltag führt jede Familiengeschichte, jede kleine Nachforschung über eine Strasse Seouls in finsterste Verstrickungen – während des Koreakriegs (1950–1953) war die Stadt mehrmals Schauplatz von Schlachten zwischen den kommunistischen und den alliierten Truppen. Bei jedem Wechsel der Besatzung wurden Tausende von Leuten als angebliche Kollaborateur:innen ermordet, die Autorin Park Wan-seo hat eindrücklich nacherzählt, wie da auch Nachbarschaftsquerelen geregelt wurden. Die Literatur scheint der Ort zu sein, wo die Nachwirkungen des Kalten Kriegs, der auf dieser Halbinsel so verheerend offen war wie kaum irgendwo sonst, zum Ausdruck kommen.

Han Kang ist nicht allein. Die Republik Korea hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem neuen Kreuzungspunkt von Weltkulturen entwickelt. Mehrere Regierungen haben die literarische Übersetzung systematisch und ausdauernd gefördert: die Übersetzung von Literatur aus allen Kontinenten ins Koreanische oder vom Koreanischen in andere Sprachen. Anders als in den kapitalintensiven Pop- und Filmindustrien können Frauen mit kritischen Ansätzen in der Literatur reüssieren.

Daran knüpft auch die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer an. Im Dezember 2019 prägte ihre Installation «For You» den Eingangsbereich des Museum of Modern and Contemporary Art in Seoul. Auf einem senkrecht hängenden, schlanken Pfosten, der sich unregelmässig getaktet hoch- und runterbewegte, waren in wandernder Leuchtschrift Texte über Macht und Geschlecht zu lesen. Es waren Verse, Träume, Forderungen. Noch selten habe ich mich in einem Museum so willkommen gefühlt.

«For You» schien zu sagen: Vorgängerinnen und Kolleginnen haben dir hier den Raum geöffnet. Die Texte stammten unter anderem von Han Kang, aber auch von Kim Hyesoon – einer Grande Dame der koreanischen Lyrik –, von Emily Jungmin Yoon, Swetlana Alexijewitsch, Hawzhin Azeez. Da kam die Welt neu zusammen, um unerwartete Kombinationen und Ideen zu ermöglichen. Sich an diesen Moment zu erinnern, dank des Nobelpreises für Han Kang, tut gut in diesen Tagen.

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin auf dem Sprung an die Buchmesse.