Von oben herab: Post vom Wagner
Stefan Gärtner über unreiche Gutverdienende, Döner und «Terminator»

Vor zwanzig, dreissig Jahren hätte ich einen Sohn vielleicht Henry genannt, weil die männliche Hauptfigur in Christoph Heins frühem Erfolgsroman «Der fremde Freund. Drachenblut» so heisst. Dann habe ich mit dem Kinderkriegen so lange gewartet, bis mir Christoph Hein egal und Henry zum Modenamen avanciert war, und also schlug ich meiner Frau einen simplen, unterkandidelten Namen aus einem alten sozialdemokratischen Kinderbuch vor. Sie war erst dagegen, nach wochenlangen Alternativprüfungen dann plötzlich dafür, und heute ist Henry, entnehme ich dem «Tages-Anzeiger», ein Akronym für «High Earner, Not Rich Yet».
Zunächst galt das jungen Menschen aus den USA, die, nach einem teuren Studium, zwar viel verdienten, aber auch viel Schuldendienst zu leisten hatten; jetzt sind damit Leute gemeint, die genug verdienen, um viel Geld auszugeben, aber zu wenig, um dann auch noch was auf die Seite zu legen, gerade in teuren Ländern wie der Schweiz. «Der hiesige Henry», fasst der «Tagi» nach einem Übersichtsartikel zusammen, «am Ende ist er wohl irgendwo zwischen sparfaulem Konsumopfer und geschröpftem Mittelständler zu finden», dem der Staat von seinen 200 000 Stutz im Jahr alles wegsteuert. Und wenn die Kinder dann noch auf die Privatschule müssen!
Nein, solche Sorgen habe ich nicht; soll ich sagen: zum Glück? Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist ja, mir bei Nachrichten zum Thema Lohnanpassung klarzumachen, dass ich genau das verdiene, was ich zu Zeiten verdiente, als es einen Döner für drei Euro gab. Heute kostet er sogar im verarmten westdeutschen W. sieben, in Frankfurt am Main, wo ich lange gelebt habe, nicht unter acht, eher schon zehn, in Zürich vermutlich zwanzig. Ich verdiene deswegen keinen Cent mehr und muss noch froh sein, dass ich als linker Feuilletonist überhaupt halbwegs Geld verdiene, und dann sogar in harten Franken, weil die WOZ das Kunststück fertigbringt, als linke, selbstverwaltete Zeitung nicht mit einem Bein im Konkurs zu stehen.
Vor ein paar Jahren (und ich hoffe, ich wiederhole mich nicht, es ist eine meiner Lieblingsgeschichten) habe ich, im Suff an einem Fest, einem lieben Kollegen einmal in allem gerechten Hohn vorgerechnet, sein Käseblatt zahle mir für eine intellektuell tadellose, argumentativ überraschende, von den üblichen Inhaltserzählungen nach Kräften absehende Filmrezension ziemlich genau das, was ich als Abiturient vom Lokalblatt für die ersten kritischen Stolpereien bekommen hätte, und ob das nicht demütigend für uns alle sei. Was der Kollege nicht wusste: dass ich dabei in einem (günstigen) Massanzug steckte, einem letzten Geschenk meiner moribunden Mutter, und wer wissen will, wovon ich lebe, ist der Wahrheit nun auf der Spur.
Denn ich bin halt kein Henry, sondern ein Stefan (Strong Ego For A Nutcase) und übe einen Beruf aus, der das ist, was vor 120 Jahren der Wagner war. Der baute noch fleissig Kutschen, aber es fuhren bereits Autos, und heute gibt es immer noch Wagner, aber mehr als Spezialberuf für eine äusserst überschaubare Kundschaft. So wird es mit linker Publizistik, ja mit Publizistik insgesamt, ja mit dem zur Lektüre bestimmten Wort vermutlich auch gehen, denn der Siegeszug des Visual- als Bewegtbilderzeitalters ist weder aufzuhalten noch etwa rückgängig zu machen. Es ist auch Quatsch, sich darüber zu beschweren, denn alles hat seine Zeit, und über die Welt, wie sie ist, erfährt man in «Terminator»-Filmen längst mehr als aus Goethes zähen «Wahlverwandtschaften», falls die Aufmerksamkeitsspannen für einen ganzen Kinofilm denn noch reichen.
Meine reicht primär dafür, mir im Kleinanzeigenteil des Internets einen Winterparka zu suchen, der meinen Potenzen entspricht, denn schliesslich bin ich kein Ruedi: Really Uniquely Erotic, Does It. Nicht zu ändern!
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.