Ein Traum der Welt: Fantasie hinter Schleiern

Nr. 36 –

Annette Hug warnt vor Katholikinnen

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In der vergangenen Woche fand im Zürcher Landesmuseum eine Veranstaltung zur Katastrophe von Mattmark statt. Wie 88 Arbeiter:innen durch einen Gletschersturz ums Leben kamen, stand auch in dieser Zeitung (siehe WOZ Nr. 35/25). Im Landesmuseum sprach die Historikerin Elisabeth Joris unter anderem mit Kurt Marti, früherer Redaktor der Walliser Zeitschrift «Rote Anneliese». Was Joris lange aufgeregt hatte, nahm auch Marti auf: dass Witwen in Trauerkleidern jahrzehntelang als symbolische Figuren die Walliser Erinnerung prägten. Marti spitzte diese Geschichte etwas polemisch zu: Der Bischof predigte, dass der Bergsturz eine Strafe Gottes gewesen sei für die Abkehr vom wahren Glauben, deshalb mussten die Witwen und Töchter drei Jahre lang Schwarz tragen. Statt dass sich die Verursacherin – die Elektrowatt, die in gefährlichster Lage Baracken für die Arbeiter:innen baute – entschuldigte, sollten Frauen für die Sünden der Menschheit büssen. Inzwischen hat sich der Walliser Staatsratspräsident Mathias Reynard an einer Gedenkveranstaltung überraschend bei den Hinterbliebenen der mehrheitlich italienischen Arbeiter:innen entschuldigt. Der emotionale Anlass machte Schlagzeilen.

Für Elisabeth Joris war der Auslöser, das Thema Mattmark neu aufzugreifen, die Darstellungen der Frauen als passive, dekorative Trauergestalten. Dabei waren sie rund um die Baustelle auch als Angestellte tätig. Generell ist die aktive Rolle katholischer Frauen in erzkonservativen Gegenden nicht zu unterschätzen. Dafür geben die Philippinen etliche Beispiele her, nicht zuletzt in den Schriften des Autors José Rizal, der offiziellen Leitfigur des philippinischen Auftritts als Gastland der Frankfurter Buchmesse (15. bis 19. Oktober 2025). Kaum war Ende 1887 ein Exemplar seines Romans «Noli me tangere» in Manila angekommen, wurde es von der Kirche zensiert. Ein Priester warnte in einem Pamphlet vor diesem Buch, da werde auf jeder Seite gehetzt, da würden Obszönitäten verbreitet, die Kirche in den Schmutz gezogen, ein Geistloser habe diesen Text mit den Füssen geschrieben.

Pikanterweise war der Roman zur Zeit der Attacke in Manila gar nicht erhältlich. Anfang Winter 1887 hatte Rizal in Berlin 2000 Exemplare davon drucken lassen und sie dann zu Freunden in Barcelona, Madrid und Hongkong geschickt. Es dauerte Monate, bis einige Exemplare in Manila ankamen. Lesen konnte sie auch dann nur, wer Spanisch sprach, was auf die meisten Bewohner:innen nicht zutraf. So erfuhren die meisten allein durch die Schmähungen von Pater José Rodriguez, Autor des besagten Pamphlets, was ihnen entging. Ein bildungshungriges Publikum wäre da gewesen. Etwa die «Frauen von Malolos»: Diese Gruppe von Schülerinnen ging in die Geschichte ein, weil Rizal mit einem öffentlichen Brief ihre Eingabe unterstützte, mit der sie Spanischkurse forderten. Sie wollten den Zugang zur weiten Welt. Stattdessen wurden sie mit Pamphleten abgespeist. Wie stellten sie sich wohl den verbotenen Roman vor? Was für Geschichten malten sie sich aus – was für Verwegenheiten, Lustbarkeiten und Umstürze?

Zur Frankfurter Buchmesse ist die deutsche Übersetzung des «Noli me tangere» von Annemarie del Cueto-Mörth wieder greifbar. Neu auf Deutsch zu lesen sind auch Romane zeitgenössischer Autorinnen, die ihre Wahrnehmung einer Welt in Aufruhr in ganz unterschiedlichen Formen zur Sprache bringen.

Annette Hug ist Autorin von «Wilhelm Tell in Manila» (2016) und Übersetzerin in Zürich. Sie empfiehlt neben den zwei Romanen von José Rizal vor allem Bücher von Caroline Hau, Lualhati Bautista, Daryll Delgado, Katrina Tuvera, Patricia Evangelista, Renren Galeno sowie Jessica Zafra.